BGH, X ZR 102/23 – Tertiäroptik: Inbezugnahme bei Art. 54 Abs. 2 EPÜ

BGH, Urteil vom 23. September 2025 – X ZR 102/23 – Tertiäroptik

Leitsätze des Gerichts:

  1. EPÜ Art. 54 Abs. 2
    Bei der Prüfung einer Erfindung auf Neuheit darf eine in einer Vorveröffentlichung in Bezug genommene weitere Schrift nur berücksichtigt werden, wenn hinreichend deutlich gemacht wird, welche daraus ersichtlichen Informationen in Bezug genommen und zur Grundlage der Vorveröffentlichung gemacht werden und diese dem Leser zum jeweils maßgeblichen Datum zugänglich sind. (Bestätigung von BGH, Urteil vom 4. November 2008 – X ZR 154/05, Rn. 26).

Aus der Entscheidungsbegründung:

Der X. Zivilsenat präzisiert die Anforderungen an die Berücksichtigung referenzierter Schriften im Rahmen der Neuheitsprüfung nach Art. 54 Abs. 2 EPÜ. Maßgeblich ist, dass die Vorveröffentlichung die herangezogenen Inhalte der Bezugsschrift hinreichend konkret benennt und diese Inhalte zum Stichtag öffentlich zugänglich waren. Zugleich bestätigt der Senat den Grundsatz des Einzelvergleichs: Neuheit kann nur verneint werden, wenn ein einziges Dokument sämtliche Merkmale unmittelbar und eindeutig offenbart. Siehe auch Offenbarungsgehalt einer Vorveröffentlichung.

  1. Inbezugnahme und Offenbarungsgehalt
    • In Bezug genommene Schriften können den Offenbarungsgehalt einer Vorveröffentlichung ergänzen, sofern klar ist, welche Informationen übernommen werden und diese zum maßgeblichen Zeitpunkt zugänglich waren. (Bestätigung der Linie aus X ZR 154/05.)
  2. Einzelvergleich bei der Neuheit
    • Neuheit ist grundsätzlich im Wege des Einzelvergleichs festzustellen; erforderlich ist die unmittelbare und eindeutige Offenbarung sämtlicher Merkmale in einer einzigen Entgegenhaltung.

BGH, X ZR 72/23: Fingerelement

BGH, Urteil vom 22.07.2025 – X ZR 72/23 – Fingerelement

Gerichtliche Leitsätze:

  1. Wenn ein Funktionsprinzip für sich gesehen seit vielen Jahrzehnten bekannt ist [→ Lange Stagnation des Standes der Technik] , bedarf es in der Regel einer zusätzlichen Anregung, um dieses Prinzip erstmals bei Vorrichtungen einzusetzen, deren Einsatzzweck, Aufbau und Funktionsweise ebenfalls seit vielen Jahrzehnten bekannt sind (Ergänzung zu BGH, Urteil vom 15. Juni 2021 – X ZR 61/19, GRUR 2021, 1280 Rn. 53 – Laufradschnellspanner).
  2. Ob und in welchem Umfang Anlass besteht, nach Lösungen für eine bestimmte Fragestellung auch außerhalb des Gebiets der Technik zu suchen, in dem sich die betreffende Frage stellt, hängt vom Einzelfall ab.

EPG, ACT_7603/2024 ORD_69436/2024:

Lokalkammer München; 1 August 2025; ACT_7603/2024 ORD_69436/2024

In dem Verfahren vor der Lokalen Kammer München des Einheitlichen Patentgerichts wurde die Verletzungsklage einer US-amerikanischen Patentinhaberin gegen einen Elektronikkonzern in Bezug auf ein europäisches Patent abgewiesen. Das Gericht entschied, dass zentrale Patentansprüche wegen unzulässiger Erweiterung (added matter) über den ursprünglichen Offenbarungsgehalt hinausgehen und deshalb in Deutschland und Frankreich für nichtig zu erklären sind. Da die Klage auf diesen Ansprüchen beruhte, wurde sie abgewiesen. Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens, und eine Berufung ist möglich.

Aus der Entscheidungsbegründung:

Das Gericht stellt klar, dass ein europäisches Patent nur dann die Erfordernisse des Artikels 123(2) EPÜ erfüllt, wenn der Fachmann alle Merkmale des beanspruchten Gegenstands „unmittelbar und eindeutig“ aus der Gesamtheit der ursprünglichen Anmeldung, einschließlich deren Beschreibung und Zeichnungen, entnehmen kann. Der bloße Nachweis, dass einzelne Elemente in verschiedenen Ausführungsbeispielen oder Abschnitten der Anmeldung beschrieben werden, reicht dafür nicht aus. Es muss vielmehr eine klare und spezifische Offenbarung für die genaue Kombination der Merkmale vorliegen, wie sie im Anspruch zusammengefasst ist. Das Gericht betont außerdem, dass das Weglassen von als wesentlich offenbarten Merkmalen nicht zulässig ist, wenn dies zu einer thematischen Erweiterung führt. Ebenso ist es nicht erlaubt, aus einer Vielzahl von Optionen nachträglich eine bestimmte Kombination zu beanspruchen, wenn der Anmeldung keine hinreichende Anleitung für genau diese Kombination entnommen werden kann. Mit diesen Grundsätzen folgt das Gericht der gefestigten Rechtsprechung sowohl der EPA-Beschwerdekammern als auch der eigenen Spruchpraxis zum Schutz der Rechtssicherheit für Dritte und zur Vermeidung eines „Nachbesserns“ des Offenbarungsgehalts nach Einreichung der Anmeldung.

Im vorliegenden Fall führte die unzulässige Erweiterung dazu, dass die betroffenen Patentansprüche für nichtig erklärt wurden und die darauf gestützte Verletzungsklage daher abgewiesen werden musste.

BGH, X ZR 40/23 – Spreizdübel II: Anforderungen an product-by-process-Ansprüche

BGH, Urteil vom 17. Juli 2025 – X ZR 40/23 – Spreizdübel II

Leitsätze des Gerichts:

EPÜ Art. 52
a) Bei der Prüfung der Patentfähigkeit des Gegenstands eines product-by-process-Anspruchs ist zu klären, ob sich das im Anspruch angegebene Herstellungsverfahren in spezifischen Eigenschaften des Erzeugnisses niederschlägt, durch die es sich von den im Stand der Technik bekannten Erzeugnissen unterscheidet.

b) Körperliche und funktionale Eigenschaften des Erzeugnisses, die sich aus der Anwendung des Verfahrens ergeben, gehören zu den Sachmerkmalen des beanspruchten Erzeugnisses. Ob es solche gibt und welche das sind, ist durch Auslegung des Patentanspruchs zu ermitteln (Bestätigung von BGH, Urteil vom 19. Juni 2001 – X ZR 159/98, GRUR 2001, 1129, 1133 – Zipfelfreies Stahlband; Urteil vom 8. Juni 2010 – X ZR 71/08, juris Rn. 24).

PatG § 116 Abs. 2 Nr. 2, § 117; ZPO §§ 530, 521 Abs. 2, § 296 Abs. 1
Ein erstmals nach Ablauf der Frist für die Berufungserwiderung gestellter Hilfsantrag des Nichtigkeitsbeklagten darf nur dann berücksichtigt werden, wenn seine Zulassung die Erledigung des Rechtsstreits nicht verzögern würde oder die Partei die Verspätung genügend entschuldigt [→ Umfang der Prüfung im Berufungsverfahren].

Aus der Entscheidungsbegründung:

Der Bundesgerichtshof bestätigt und präzisiert in der Entscheidung „Spreizdübel II“ seine bisherige Rechtsprechung zu product-by-process-Ansprüchen und zur Zulässigkeit verspäteten Vorbringens im Berufungsverfahren.

  1. Product-by-process-Ansprüche (PbP) – rechtliche Einordnung und Anforderungen
    • Ein Patentanspruch darf ein Erzeugnis auch durch ein bestimmtes Herstellungsverfahren kennzeichnen („product-by-process“), wenn die Beschreibung durch physische Merkmale unmöglich oder unpraktikabel ist. Die Angabe des Verfahrens dient dabei lediglich der Kennzeichnung des Erzeugnisses, nicht der Beschränkung auf ein bestimmtes Herstellungsverfahren.
    • Entscheidend ist, ob das im Anspruch genannte Verfahren spezifische, unterscheidbare Eigenschaften des Erzeugnisses bewirkt. Solche Eigenschaften müssen gegenüber dem Stand der Technik (neuheitsschaffend und erfinderisch) abgrenzbar sein.
    • Die im Verfahren erzeugten körperlichen und funktionalen Merkmale gehören zu den Sachmerkmalen des beanspruchten Erzeugnisses und sind durch Auslegung zu ermitteln (unter Verweis auf „Zipfelfreies Stahlband“, BGH X ZR 159/98, und „Pulsationsdämpfer“, BGH X ZR 28/22).
    • Selbst wenn das Verfahren neu und erfinderisch ist, kann das Erzeugnis nicht patentierbar sein, wenn es als solches nicht neu und erfinderisch ist.
  2. Verspätetes Vorbringen im Berufungsverfahren
    • Hilfsanträge, die erst nach Fristablauf zur Berufungserwiderung gestellt werden, sind nur zulässig, wenn sie das Verfahren nicht verzögern oder wenn die Verspätung genügend entschuldigt ist (§§ 530, 521 Abs. 2, 296 Abs. 1 ZPO i.V.m. § 117 PatG).
    • Ein solcher verspäteter Antrag ist regelmäßig nicht sachdienlich, wenn bereits in erster Instanz, insbesondere nach Hinweisen des Patentgerichts (§ 83 Abs. 1 PatG), Anlass zur Stellung entsprechender Anträge bestand.
    • Der Berufungsbeklagte muss den Erfolg in erster Instanz prüfen und auf etwaige Risiken durch frühzeitige, hilfsweise Anträge reagieren (§ 116 Abs. 2 Nr. 1 PatG).

EPG, Berufungskammer – UPC_CoA_327/2025: Maßstäbe für Beweissicherungsmaßnahmen im Ex-parte-Verfahren

EPG, Berufungskammer, Beschl. v. 15. Juli 2025 – UPC_CoA_327/2025

In der vorliegenden Entscheidung bestätigte die Berufungskammer des Einheitspatentgerichts (EPG) eine frühere Entscheidung der Lokalkammer Paris, mit welcher in einem ex parte-Verfahren die Anordnung von Beweis- und Besichtigungsmaßnahmen gegen zwei Antragsgegner in Bezug auf eine angebliche Patentverletzung betreffend ein europäisches Patent gewährt wurden.

Die Berufung eines der Antragsgegner, mit der insbesondere das Fehlen von Dringlichkeit, das Fehlen eines Risikos der Beweisvernichtung sowie ein angeblicher Verstoß gegen den Grundsatz der Loyalität gerügt wurden, wurde als unbegründet zurückgewiesen.

Die Berufungskammer stellte klar, dass das Gericht im Rahmen seines Ermessens nach Art. 60 EPGÜ und den einschlägigen Regelungen der EPGVO (insb. R. 192 ff., 194, 197) bei der Anordnung von Beweissicherungs- und Besichtigungsmaßnahmen insbesondere die Dringlichkeit, das Vorliegen eines Risikos der Beweisvernichtung sowie die Gründe für ein ex parte-Vorgehen prüfen muss. Der Begriff der Dringlichkeit ist dabei eigenständig und von der Dringlichkeit im einstweiligen Rechtsschutz zu unterscheiden. Die Wahrscheinlichkeit – nicht Gewissheit – eines Beweisverlustes genügt; eine ausführliche Prüfung der Schutzrechtsgültigkeit ist im Rahmen von Beweissicherungsmaßnahmen grundsätzlich nicht erforderlich. Der Antragsteller muss dem Gericht nur dann (potenziell) relevante Vorbelastungen mitteilen, wenn deren Offenlegung zum Zeitpunkt des Antrags ausnahmsweise geboten ist.

Im Ergebnis bestätigte das EPG das Vorgehen der ersten Instanz, insbesondere die Entscheidung, die Maßnahmen ohne vorherige Anhörung der Antragsgegner anzuordnen, da Dringlichkeit und ein Risiko der Beweisvernichtung ausreichend dargelegt waren. Die Berufung wurde abgewiesen.

Leitsätze

  1. Bei der Prüfung des Antrags auf Beweissicherung übt das Gericht sein Ermessen unter Berücksichtigung der Dringlichkeit der Angelegenheit (R. 194.2(a) EPGVO → Ermessensausübung des Gerichts) aus, um zu bestimmen, ob und in welchem Umfang es den Antragsgegner anhören möchte (R. 194.1(a) EPGVO), die Parteien zu einer Anhörung laden möchte (R. 194.1(b) EPGVO), den Antragsteller zu einer Anhörung ohne Anwesenheit des Antragsgegners laden möchte (R. 194.1(c) EPGVO) oder über den Antrag entscheiden möchte, ohne den Antragsgegner gehört zu haben (R. 194.1(d) EPGVO).
  2. Die Frist, innerhalb derer der Antragsteller seinen Antrag auf Beweissicherung gestellt hat, ist im vorliegenden Fall nicht geeignet, die Dringlichkeit der Angelegenheit (R. 194.2(a) EPGVO) in Frage zu stellen.
  3. Es ist zwischen der Bewertung der Dringlichkeit im Rahmen eines Antrags auf Beweissicherung (R. 194.2(a) EPGVO → Ermessensausübung des Gerichts) und derjenigen zu unterscheiden, die im Rahmen eines Antrags auf einstweilige Maßnahmen (R. 209.2(b) EPGVO → Berücksichtigung von Faktoren durch das Gericht) zu bewerten ist. Im Rahmen seiner Ermessensausübung, mit der das Gericht bestimmt, ob einstweilige Maßnahmen angeordnet werden, muss dieses jeglichen übermäßigen Verzögerungen bei der Beantragung einstweiliger Maßnahmen Rechnung tragen (R. 211.4 EPGVO). Eine solche Anforderung ist weder im EPGÜ noch in der Verfahrensordnung für die Beurteilung eines Antrags auf Beweissicherung erforderlich.
  4. Das Risiko des Verschwindens oder der Unverfügbarkeit von Beweismitteln ist anhand der Wahrscheinlichkeit (R. 194.2(c) EPGVO) oder des nachweisbaren Risikos (R. 197.1 EPGVO) zu beurteilen, dass die Beweismittel zerstört werden könnten oder nicht mehr verfügbar sind, und nicht anhand der Gewissheit des Verschwindens oder der Unverfügbarkeit der Beweismittel.
  5. Anders als bei den einstweiligen Maßnahmen (Teil 3 der Verfahrensordnung), für deren Anordnung das Gericht von der hinreichenden Gültigkeit des Patents überzeugt sein muss (R. 211.2 EPGVO), ist ein solches Kriterium im Rahmen der Ermessensausübung bezüglich Maßnahmen zur Beweissicherung durch das Gericht nicht erforderlich. Bei der Prüfung eines Antrags auf Beweissicherung und Ortsbesichtigung hat das Gericht die Gültigkeit des streitigen Patents nicht zu prüfen; diese Frage bleibt der Entscheidung des Sachrichters oder bei einstweiligen Maßnahmen vorbehalten, außer wenn die Vermutung der Gültigkeit offensichtlich in Frage gestellt werden kann, beispielsweise aufgrund einer Entscheidung einer Einspruchsabteilung oder einer Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts in einem parallelen Einspruchsverfahren oder eines Nichtigkeitsverfahrens vor einem anderen Gericht bezüglich desselben Patents.
  6. Die Beurteilung der Relevanz eines Standes der Technik obliegt dem Sachrichter oder — in anderem Umfang — dem Richter, der über Anträge auf einstweilige Maßnahmen entscheidet. Deshalb ist es dem Antragsteller auf Maßnahmen zur Beweissicherung im Stadium des Antrags nicht auferlegt, ihm bekannte, ältere Dokumente zu identifizieren und mitzuteilen, es sei denn, dass diese aus besonderen Gründen geeignet sind, die zu erlassende Ex-parte-Entscheidung zu beeinflussen. Ebenso obliegt es dem Richter, der die Maßnahmen zur Beweissicherung und Ortsbesichtigung anordnet, nicht, solche mitgeteilten älteren Dokumente zu überprüfen, es sei denn, diese sind aus offensichtlichen Gründen geeignet, seine Entscheidung zu beeinflussen.

EPG, UPC_CFI_149/2024: „Argumentationsverbot“

EPG, Lokalkammer München, Anordnung v. 20. Juni 2025 – UPC_CFI_149/2024, ORD_69211/2024

Leitsätze der Entscheidung:

Der Anwendung einer Zuständigkeitsregelung (hier: Art. 33 Abs. 1 (a) EPGÜ → Zuständigkeit der Lokalkammern und Regionalkammern) steht nicht entgegen, dass die Klägerin in der Klageschrift ihre Begründung für die Zuständigkeit der Lokalkammer nicht explizit auf diese Regelung gestützt, sondern lediglich eine andere Vorschrift (hier: Art. 33 Abs. 1 (b) EPGÜ) erwähnt hat. Insofern gilt für die Erwiderung auf den Einspruch nichts anderes als auch für die Replik auf eine Klageerwiderung im
Verletzungsverfahren. Die Klägerin kann sich ergänzend auf die weitere Regelung stützen (Fortführung von Berufungsgericht, Anordnung v. 18.09.2024, UPC_CoA_265/2024, APL_30169/2024 – NST/VW; Anordnung v. 21.11.2024, UPC_CoA_456/2024, APL_44633/2024 – OrthoApnea).

Art. 33 Abs. 1 (b) S. 2 EPGÜ bezieht sich nicht auf Art. 33 Abs. 1 (a) EPGÜ. Weder ermöglicht die Regelung eine Klage gegen mehrere Beklagte, von denen nur einer eine Patentverletzung im Vertragsmitgliedsstaat der angerufenen Kammer begangen hat, noch knüpft sie eine einheitliche Klage gegen mehrere Beklagte, die allesamt Verletzungshandlungen in dem
betroffenen Vertragsmitgliedsstaat begangen haben oder dort ihren Sitz haben, an besondere Voraussetzungen. Art. 33 Abs. 1 (b) S. 2 EPGÜ stellt unter den dort verlangten Voraussetzungen eine Erweiterung der Zuständigkeitsregeln dar auf Klagen gegen Personen, die in dem betroffenen Vertragsmitgliedsstaat weder eine Patentverletzung begangen haben noch einen Sitz haben.

Aus der Entscheidungsbegründung:

Nach der Rechtsprechung des EPG gelten für die Einführung neuer rechtlicher Argumente Einschränkungen. Regel 13 VerfO  [→ Erforderliche Angaben in der Klageschrift] verlangt, dass die Klageschrift die Gründe enthält, warum die geltend gemachten Tatsachen eine Verletzung der Patentansprüche darstellen, einschließlich rechtlicher Argumente. Diese Bestimmung ist im Lichte des letzten Satzes von Erwägungsgrund 7 der Verfahrensordnung auszulegen, wonach die Parteien ihren Fall so früh wie möglich im Verfahren darlegen müssen. Allerdings schließt Regel 13 VerfO nicht aus, dass ein Kläger nach Einreichung der Klageschrift neue Argumente vorbringen kann. Ob ein neues Argument zulässig ist, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab, einschließlich der Gründe, warum der Kläger das Argument nicht bereits in der Klageschrift vorgebracht hat, und den verfahrensrechtlichen Möglichkeiten des Beklagten, auf das neue Argument zu reagieren. Bei dieser Beurteilung verfügt das erstinstanzliche Gericht über einen gewissen Ermessensspielraum (Berufungsgericht, Anordnung v. 21.11.2024, UPC_CoA_456/2024, APL_44633/2024 – OrthoApnea; vgl. auch vorangehend LK Brüssel, Anordnung v. 19. Juli 2024, APC_CFI_376/2023, ACT_581538/2023 – OrthoApnea). Insbesondere ist es nicht erforderlich, dass der Kläger alle möglichen Verteidigungslinien vorwegnimmt und alle Argumente, Tatsachen und Beweise in der Klageschrift aufführt und einreicht und dass danach nichts mehr hinzugefügt werden kann. Dies kann insbesondere dann der Fall sein, wenn der Kläger, nachdem er ein Argument in seiner Klageschrift vorgebracht hat, dieses Argument in seiner Replik gemäß Regel 29 (a) oder (b) RoP weiter begründet, um auf eine Einwendung des Beklagten gegen das ursprünglich vorgebrachte Argument in seiner Klageerwiderung zu reagieren (Berufungsgericht, Anordnung v. 18.09.2024, UPC_CoA_265/2024, APL_30169/2024 – NST/VW). Im Übrigen sind die vorstehenden Grundsätze vor dem allgemeinen Grundsatz zu verstehen, dass das Gericht das Recht kennt („iura novit curia“) und die Parteien lediglich den Tatsachenstoff liefern müssen („da mihi facta, do tibi ius“).

Anmerkung:

Der Ansatz des Einheitlichen Patentgerichts (EPG), rechtliche Argumente möglichst früh im Verfahren einzufordern, ist aus Gründen der Effizienz nachvollziehbar, birgt jedoch erhebliche Risiken für die materielle Gerechtigkeit. Zwar erlaubt die Verfahrensordnung im Einzelfall ein nachträgliches Vorbringen, doch bleibt dies dem Ermessen des Gerichts überlassen – was zu Intransparenz, Rechtsunsicherheit und einem formalen Verfahrensverständnis führen kann. Wird ein rechtliches Argument allein wegen „Verspätung“ ausgeschlossen, droht eine Verletzung des rechtlichen Gehörs und des Grundsatzes „iura novit curia“. Damit steht der EPG-Ansatz im Spannungsfeld zwischen Verfahrensökonomie und rechtsstaatlicher Fairness – eine Balance, die durch klarere Kriterien und stärkere gerichtliche Aufklärungspflichten verbessert werden müsste.

Macht das Gericht seine Entscheidung jedoch faktisch davon abhängig, ob und wann eine Partei ein bestimmtes rechtliches Argument einführt, wird die richterliche Rechtsanwendung an formale Prozessregeln gebunden – im Widerspruch zur Pflicht, aus dem festgestellten Sachverhalt die rechtlichen Schlüsse selbstständig zu ziehen. Ein solcher Umgang gefährdet die materielle Gerechtigkeit und läuft dem Zweck eines auf Rechtserkenntnis ausgerichteten Verfahrens zuwider.


G 1/24: Beschreibung und Zeichnungen stets maßgeblich für die Auslegung

G 1/24, Große Beschwerdekammer, Beschluss v. 18.06.2025

Die Große Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts hat am 18. Juni 2025 in der Sache G 1/24 (Vorlage T 0439/22-3.2.01) entschieden. Die Entscheidung wird demnächst im Amtsblatt des EPA veröffentlicht.

Ausgangspunkt war eine Vorlagefrage der Technischen Beschwerdekammer 3.2.01, die klären wollte, nach welchen Grundsätzen Patentansprüche bei der Prüfung von Neuheit und erfinderischer Tätigkeit auszulegen sind [→ Auslegung der Patentansprüche]. In der Spruchpraxis der Beschwerdekammern hatte sich eine Divergenz herausgebildet: Ein Teil der Entscheidungen zog Beschreibung und Zeichnungen nur heran, wenn der Anspruchswortlaut unklar erschien, ein anderer Teil bezog sie stets in die Auslegung ein. Die Kammer erklärte das Vorlageersuchen insoweit für zulässig und wies lediglich eine dritte, weitergehende Frage als nicht entscheidungserheblich zurück.

Die Große Beschwerdekammer entschied, dass für die Interpretation von Ansprüchen bei der Patentierbarkeitsprüfung keine einzelne Vorschrift des EPÜ als alleinige Rechtsgrundlage taugt. Weder Artikel 69 EPÜ [→ Bestimmung des Schutzbereichs] in Verbindung mit dem Protokoll noch Artikel 84 EPÜ seien für sich genommen vollständig. Die Auslegung müsse sich deshalb auf Systematik, Telos und gefestigtes Richterrecht stützen. Gleichwohl seien die Wertungen von Artikel 69 EPÜ analog heranzuziehen, um eine einheitliche Praxis zwischen EPA und späteren Verletzungsgerichten – insbesondere dem Einheitspatentgericht – zu gewährleisten.

Kern der Entscheidung ist die Feststellung, dass Beschreibung und Zeichnungen immer heranzuziehen sind, wenn ein Fachmann den Inhalt eines Anspruchs im Rahmen von Artikel 52 bis 57 EPÜ verstehen muss; eine Beschränkung auf Fälle eindeutiger Unklarheit wird ausdrücklich verworfen. Zugleich betont die Kammer das Vorrangig-sein von Klarheitskorrekturen: Unklarheiten sind primär durch Anspruchsänderungen nach Artikel 84 EPÜ zu beseitigen, nicht durch eine bloße „korrigierende“ Auslegung.

Amtlicher Leitsatz:

Die Patentansprüche sind der Ausgangspunkt und die Grundlage für die Beurteilung der Patentierbarkeit einer Erfindung nach den Artikeln 52 bis 57 EPÜ. Die Beschreibung und die Zeichnungen sind bei der Beurteilung der Patentierbarkeit einer Erfindung nach den Artikeln 52 bis 57 EPÜ stets zur Auslegung der Ansprüche [→ Bestimmung des Schutzbereichs] heranzuziehen – und zwar nicht nur dann, wenn der Fachmann einen Anspruch für sich genommen als unklar oder mehrdeutig empfindet.

Aus der Entscheidungsbegründung:

In ihrer Begründung unterstreicht die Kammer, dass eine voneinander abweichende Praxis zwischen EPA, EPG und nationalen Gerichten „höchst unattraktiv“ wäre. Zudem stellt sie klar, dass schon die Feststellung angeblicher Eindeutigkeit einen Interpretationsakt darstellt. Schließlich hebt sie hervor, dass Definitionen in der Beschreibung regelmäßig verbindlich sind und nur in qualifizierten Ausnahmefällen ignoriert werden dürfen.

EPG, UPC_CoA_402/2024: Entscheidung über einen Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens

EPG, Berufungskammer, Beschl. v. 19. Juni 2025 – UPC_CoA_402/2024

Leitsatz:

Das Berufungsgericht setzt die allgemeinen Grundsätze dar, die bei der Entscheidung über einen Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens aufgrund eines grundlegenden Verfahrensfehlers gemäß Art. 81(1)(b) EPGÜ [→ Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens] i.V.m. Regel 247(c) EPGVO [→ Verletzung von Artikel 76 des Übereinkommens] zu berücksichtigen sind (grundlegender Verfahrensfehler; grundlegende Verletzung von Art. 76 EPGÜ).

Rechtssätze der Entscheidungsgründe (übersetzt)

Die Gesetzgeber haben ausdrücklich bestimmt, dass Entscheidungen des Berufungsgerichts endgültig sind. Eine weitere Berufung gegen diese Entscheidungen ist im EPGÜ oder der EPGVO nicht vorgesehen.

Art. 81(1) EPGÜ [→ Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens] eröffnet die Möglichkeit, nach einer endgültigen Entscheidung die Wiederaufnahme des Verfahrens zu beantragen, wenn – kurz gesagt – diese auf einer Handlung beruht, die als Straftat eingestuft wurde, oder wenn ein grundlegender Verfahrensfehler vorliegt. Diese Umstände dürfen nicht bekannt gewesen sein oder, bei einem grundlegenden Verfahrensfehler, sofern bekannt, während des Verfahrens, das zur Entscheidung geführt hat, oder im Berufungsverfahren bereits gerügt worden sein (vgl. R. 248 EPGVO), es sei denn, eine solche Rüge konnte damals nicht erhoben werden.

Der Wortlaut des Art. 81(1) EPGÜ macht deutlich, dass eine Wiederaufnahme nur ausnahmsweise gewährt werden darf, wenn die Entscheidung an einem dieser schwerwiegenden Mängel leidet. Die Wiederaufnahme ist somit kein reguläres Rechtsmittelverfahren, sondern ein außergewöhnliches Rechtsmittel. Nur grundlegende Verfahrensfehler können eine Grundlage für die Wiederaufnahme bilden.

Es ist daher nicht beabsichtigt, dass bloße Fehler jeglicher Art einen Grund für die Wiederaufnahme eines Verfahrens darstellen können. Um als Grund für eine Wiederaufnahme zu qualifizieren, muss ein Verfahrensfehler so fundamental sein, dass er für das Rechtssystem untragbar ist und das Prinzip überwiegt, dass Verfahren, die zu einer endgültigen Entscheidung geführt haben, im Interesse der Rechtssicherheit nicht wiedereröffnet werden sollen.

Ein Mangel kann außerdem nur dann als grundlegend angesehen werden, wenn festgestellt werden kann, dass ohne diesen Mangel nicht dieselbe Entscheidung getroffen worden wäre (vgl. Urteil vom 3. Juli 2014, Kamino International Logistics und Datema Hellmann Worldwide Logistics, C-129/13 und C-130/13, EU:C:2014:2041, Rn. 79 und die dort zitierte Rechtsprechung). Dies hat der Antragsteller darzulegen.


Es ist Sache der Parteien, die von ihnen für erheblich erachteten Argumente vorzubringen. Die Bewertung der von den Parteien vorgetragenen Argumente und die daraus gezogenen Schlussfolgerungen können für sich genommen nicht Gegenstand einer Überprüfung im Rahmen eines Wiederaufnahmeverfahrens sein. Wie sich aus dem Vorstehenden ergibt, gilt dies selbst dann, wenn eine solche Bewertung als fehlerhaft angesehen werden könnte, solange der Fehler keinen grundlegenden Mangel im Sinne des Art. 81(1) EPGÜ darstellt.

Dasselbe gilt für Beweismittel. Es ist Sache der Parteien, sämtliche zur Untermauerung ihrer Argumente erforderlichen Beweismittel vorzulegen. Das Gericht bewertet die von den Parteien vorgelegten Beweise frei und unabhängig (Art. 76(3) EPGÜ). Das Gericht kann selbst beurteilen, welches Gewicht Gutachten von Sachverständigen und Zeugenaussagen haben, wobei es auch seine Einschätzung der Neutralität eines Sachverständigen oder Zeugen berücksichtigen darf. Die Art und Weise, wie Fragen gestellt oder Antworten formuliert werden, kann bei dieser Beurteilung einen Anhaltspunkt bilden.

Es ist Aufgabe des Gerichts, die Relevanz für den Streitgegenstand und die Notwendigkeit der Vernehmung der benannten und beantragten Zeugen zu beurteilen. Ebenso besteht grundsätzlich keine Verpflichtung für das Gericht, einen der als Beweismittel vorgelegten Sachverständigen anzuhören. Dies gilt umso mehr in Verfahren über vorläufige Maßnahmen. Gemäß letzter Satz von R. 210.2 EPGVO findet Teil 2 der Beweisregeln auf diese Verfahren nur insoweit Anwendung, wie das Gericht dies bestimmt.

Wird eine Tatsachenbehauptung von keiner Partei ausdrücklich bestritten, gilt sie nach R. 171.2 EPGVO zwischen den Parteien als wahr. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die für diese Tatsache geltend gemachte Rechtsfolge automatisch daraus folgt. Es obliegt immer noch dem Gericht zu entscheiden, ob die vorgetragenen Tatsachen die geltend gemachte Rechtsfolge rechtfertigen (Berufungsgericht, Kodak v Fujifilm, 17. April 2025, UPC_CoA_312/2025, Rn. 12).

Die Auslegung eines Patentanspruchs ist eine Rechtsfrage (Berufungsgericht, Insulet v EoFlow, 30. April 2025, UPC_CoA_768/2024, Rn. 37). Bei der Auslegung eines Anspruchs hat das Berufungsgericht festzustellen, wie die Fachkraft die im Patentanspruch verwendeten Begriffe im Kontext des Gesamtpatentanspruchs und unter Berücksichtigung der Beschreibung und Zeichnungen versteht. Hierbei werden die vorgebrachten Argumente und Tatsachen, einschließlich etwaiger Sachverständigengutachten, frei und unabhängig gewürdigt, jedoch ohne daran gebunden zu sein.

Insofern gibt es keinen Grund, weshalb die Entscheidung der Technischen Beschwerdekammern in Einspruchsverfahren bezüglich des Streitpatents, sofern sie von einer der Parteien vorgebracht wird, nicht als Anhaltspunkt für die Ansichten des Fachmanns zum Anmeldetag herangezogen werden könnte.


Das Gericht ist frei, in Rechtsfragen eigene Feststellungen zu treffen. Die Parteien haben die relevanten Rechtsnormen, einschließlich hierzu entwickelter Rechtsprechung, zu kennen und deren eventuelle Anwendung im konkreten Fall zu antizipieren.

Zu der Rechtsprechung, deren Kenntnis von den Parteien verlangt werden kann, gehören die Entscheidungspraxis der Technischen Beschwerdekammern (TBA) und der Großen Beschwerdekammer (EBA) des Europäischen Patentamts (EPA), sofern sie für die vorliegende Frage und die vorgebrachten Argumente relevant ist. Zwar ist das Berufungsgericht an diese Rechtsprechung nicht gebunden, es besteht jedoch Anlass, insbesondere TBA- und noch mehr EBA-Entscheidungen zu berücksichtigen, da sie die gleichen materiell-rechtlichen Vorschriften des Europäischen Patentübereinkommens (EPÜ) anwenden wie das Gericht. Einen ähnlichen Ansatz verfolgen auch die nationalen Gerichte der Vertragsmitgliedstaaten und anderer EPÜ-Vertragsstaaten wie das Vereinigte Königreich, deren nationales Recht im Wesentlichen auf den materiell-rechtlichen Vorschriften des EPÜ beruht. Parteivertreter müssen daher mit der relevanten von TBA und EBA entwickelten Rechtsprechung vertraut sein.


Relevante Rechtsnormen: Allgemeiner Rechtsgrundsatz im Kontext EPÜ
„Eine Gerichtsentscheidung muss die Gründe und die Tatsachen sowie Argumente enthalten, auf die das Gericht seine Entscheidung stützt (R. 350 EPGVO). Das Gericht muss alle von den Parteien vorgebrachten Argumente berücksichtigen, ist aber nicht verpflichtet, in seinem Beschluss oder Urteil explizit und ausführlich auf jedes einzelne Argument einzugehen. Das Gericht kann Argumente, die irrelevant oder offensichtlich fehlerhaft sind, außer Acht lassen oder ein Argument implizit zurückweisen, etwa wenn dessen Ablehnung aus weiteren Erwägungen des Gerichts hervorgeht. Dies gilt erst recht für in Anlagen, wie etwa Gutachten, vorgebrachte Argumente. Im Verfahren über vorläufige Maßnahmen ist der anzuwendende Prüfungsmaßstab insoweit niedriger.

Das rechtliche Gehör spiegelt sich in Art. 76(2) EPGÜ wider, der vorsieht, dass Entscheidungen in der Sache nur auf Gründe, Tatsachen und Beweise gestützt werden dürfen, die von den Parteien vorgebracht wurden oder durch gerichtlichen Beschluss in das Verfahren eingeführt wurden, und zu denen die Parteien Gelegenheit zur Stellungnahme hatten. Es ist nicht erforderlich, dass eine Partei immer Gelegenheit haben muss, sich schriftlich zu äußern.

Sofern die Entscheidung nicht objektiv unvorhersehbar war und keine Überraschung für den gut informierten Vertreter enthielte, beispielsweise, weil sie mit der etablierten Rechtsprechung unvereinbar oder von dieser grundlegend abweicht oder sich auf zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung noch nicht bekannte Rechtsprechung stützt, ist das Gericht nicht verpflichtet, den Parteien im Vorfeld seine (vorläufige) Auffassung zu einer Streitfrage oder deren Grundlage mitzuteilen, weder in einer Zwischenkonferenz noch in einer vor der mündlichen Verhandlung abgegebenen vorläufigen Einschätzung. Weder das EPGÜ noch die EPGVO sehen ein solches System vor. Das Gericht kann eine vorläufige Einführung zur Klage (R. 112.4 EPGVO) liefern, die eine vorläufige Einschätzung enthalten kann, aber nicht enthalten muss.

Auch wenn Art. 76(2) EPGÜ sich auf Entscheidungen in der Sache bezieht, gilt das rechtliche Gehör grundsätzlich auch im Verfahren über vorläufige Maßnahmen, wobei dort ein weniger strenger Maßstab anzulegen ist oder – abhängig von den Umständen – das Prinzip gar nicht gilt (zum Beispiel in ex-parte-Verfahren, in denen aber, um dem Beklagten soweit wie möglich Gehör zu verschaffen, eine Schutzschrift, sofern eingereicht, nebst etwaiger Korrespondenz zwischen den Parteien und weiteren maßgeblichen Tatsachen, die der Antragsteller gemäß R. 205.3(b) und .4 EPGVO vorlegen muss, zu berücksichtigen ist (R. 207.8 EPGVO)).

EPG, UPC_CoA_156/2025: Zeitliche Zuständigkeit des EPG

EPG, Berufungskammer, Beschl. v. 02. Juni 2025 – UPC_CoA_156/2025

Das Berufungsgericht des Einheitspatentgerichts hatte über die Berufung einer Unternehmensgruppe gegen einen Beschluss der Lokalkammer München zu entscheiden. In dem angefochtenen Beschluss war eine vorläufige Einrede der mangelnden Zuständigkeit des Gerichts in einem Patentverletzungsverfahren zurückgewiesen worden. Die Berufung stützte sich auf die Auffassung, das Einheitliche Patentgericht (EPG) sei nicht zuständig für Verletzungshandlungen, die vor dem Inkrafttreten des Übereinkommens über ein Einheitliches Patentgericht (EPGÜ) am 1. Juni 2023 oder während eines wirksam erklärten Opt-outs stattgefunden hätten.

Die Klage war von einem Unternehmen erhoben worden, das sich auf ein europäisches Patent berief, für das ein zuvor erklärter Opt-out zurückgezogen worden war. Das Berufungsgericht bestätigte die Zuständigkeit des EPG und stellte klar, dass Artikel 32 Absatz 1 EPGÜ [→ Ausschließliche Zuständigkeit des Gerichts für Patentklagen] keine zeitliche Beschränkung vorsieht. Die Einrichtung des Gerichts diene dem Ziel, einen einheitlichen Rechtsrahmen für Patente in Europa zu schaffen. Auch für Handlungen vor dem 1. Juni 2023 bestehe daher die Zuständigkeit des EPG, sofern das betreffende Patent nach Rücknahme eines Opt-outs wieder in den Anwendungsbereich des EPGÜ fällt.

Eine Vorlage an den Europäischen Gerichtshof hielt das Berufungsgericht nicht für erforderlich. Die Entscheidung über die Kosten wurde dem erstinstanzlichen Gericht vorbehalten. Die Berufung wurde insgesamt abgewiesen.

Die Entscheidung enthält Leitsätze (übersetzt):

  • Art. 32(1) EPGÜ [→ Ausschließliche Zuständigkeit des Gerichts für Patentklagen], als Bestimmung eines zwischenstaatlich abgeschlossenen internationalen Vertrages, ist gemäß den Prinzipien des Völkergewohnheitsrechts, die Teil der EU-Rechtsordnung sind, auszulegen.
  • Das Fehlen einer zeitlichen Beschränkung der Zuständigkeitsregeln gemäß Art. 32(1) EPGÜ spiegelt den Zweck und das Ziel des Abkommens wider, ein gemeinsames Gericht für die Vertragsmitgliedstaaten zu schaffen, das in deren Rechtssystem integriert ist und dem Gericht die (ausschließliche) Zuständigkeit für die in Art. 32 (1) EPGÜ genannten Klagen und Widerklagen zu übertragen, um die Schwierigkeiten eines fragmentierten Patentmarktes in Europa und die Unterschiede zwischen den nationalen Gerichtssystemen zu vermeiden.
  • In Ermangelung gegenteiliger Bestimmungen legen diese Ziele und Zwecke des EPGÜ keinerlei zeitliche Begrenzung des Gerichts nahe oder implizieren solche.
  • Art. 3 EPGÜ [→ Geltungsbereich] regelt nicht den zeitlichen Anwendungsbereich des Abkommens in Bezug auf Handlungen, die die darin aufgeführten Rechte verletzen. Er lässt daher offen, ob Handlungen, die vor dem Inkrafttreten erfolgt sind, in den Anwendungsbereich des Abkommens fallen.
  • Während der Übergangszeit gemäß Art. 83 EPGÜ [→ Übergangsregelung], und sofern das Patent nicht gemäß Art. 83(3) EPGÜ [→ Opt-out] aus der ausschließlichen Zuständigkeit des Gerichts ausgeschlossen wurde, besteht die (ausschließliche) Zuständigkeit des EPGÜ parallel zu einer gleichzeitigen Zuständigkeit der nationalen Gerichte, bei denen eine Klage wegen Patentverletzung weiterhin anhängig gemacht werden kann. Obwohl sie während der Übergangszeit eine gleichzeitige Zuständigkeit vorsieht, bei der der Patentinhaber die Möglichkeit hat, entweder vor dem EPGÜ oder vor einem nationalen Gericht Klage zu erheben, beschränkt sich diese Option auf die Wahl des Gerichtsstandes und führt nicht zu einer teilweisen oder eingeschränkten Zuständigkeit des gewählten Gerichts, weder in Bezug auf den Gegenstand (die Patentverletzung) der Klage noch auf den Zeitraum, für den das gewählte Gericht zuständig ist.
  • Die Bestimmung der Zuständigkeit des Gerichts ab dem Zeitpunkt der Einreichung der Klage, einschließlich für Handlungen der Verletzung, die vor dem Inkrafttreten des Abkommens stattgefunden haben, widerspricht nicht dem Grundsatz der Nicht-Rückwirkung von Verträgen gemäß den Prinzipien des Völkergewohnheitsrechts und Art. 28 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge, das in Wien am 23. Mai 1969 genehmigt wurde („WÜRV“).
  • Im Falle eines wirksamen Widerrufs von einem effektiven Opt-out ist das EPGÜ zuständig, über die angeblichen Verletzungshandlungen zu entscheiden, die im Zeitraum zwischen dem Datum des Opt-out und dem des Widerrufs erfolgt sind.

EPG, UPC_CFI_59/2025: Keine Abmahnung vor einstweiliger Maßnahme erforderlich bei ASI/AEI-Bedrohung

EPG, Lokalkammer München, Beschl. v. 19. Mai 2025 – UPC_CFI_59/2025

Die Lokalkammer München des Einheitlichen Patentgerichts befasste sich mit einem Antrag auf einstweilige Maßnahmen im Zusammenhang mit zwei europäischen Patenten. Das Verfahren wurde gegenstandslos, nachdem die Antragsgegnerin eine strafbewehrte Unterlassungs- und Verpflichtungserklärung abgegeben hatte. In diesem Fall entschied das Gericht, dass der Antrag auf Erlass einstweiliger Maßnahmen zurückgewiesen wird, die erlassene Anordnung vom 28. Januar 2025 damit wirkungslos ist und die Kosten des Verfahrens der Antragsgegnerin aufzuerlegen sind.

Es wurde festgestellt, dass in Fällen, in denen eine Anti-Suit Injunction (ASI) oder Anti-Enforcement Injunction (AEI) droht, eine Abmahnung nicht erforderlich ist, da davon ausgegangen werden kann, dass die Antragsgegnerin nicht darauf reagieren wird. Die Kostenentscheidung beruht auf der Tatsache, dass die Antragsgegnerin durch die Unterlassungserklärung sich in die Lage der unterlegenen Partei begab und keine Billigkeitsgründe eine andere Kostenverteilung rechtfertigten.

Das Gericht stellte klar, dass eine ex-parte Entscheidung in dringlichen Fällen gerechtfertigt ist, wenn die Gefahr besteht, dass das Recht des Antragstellers durch zuvor erlassene Entscheidungen anderweitiger Gerichte vereitelt werden könnte. Der Antrag auf Erlass einstweiliger Maßnahmen war somit nicht offensichtlich unbegründet oder unzulässig, woher die Kostenregelung zugunsten der Antragstellerin resultiert.

Gerichtliche Leitsätze:

Kommt es für die Kostentragungspflicht im Rahmen einer Entscheidung nach Regel 360 VerfO [→ Erledigung der Hauptsache] darauf an, ob die Beklagte Veranlassung zur Klageerhebung gegeben hat, ist auf die objektive Sicht einer Person in der Position der Klägerin im Zeitpunkt der Klageeinreichung abzustellen. Es ist zu fragen, ob die Klägerin zu diesem Zeitpunkt davon ausgehen durfte, nicht ohne gerichtliche Hilfe zu ihrem Recht zu kommen.

Eine Abmahnung ist nicht Voraussetzung für die Zulässigkeit oder Begründetheit eines Antrags auf Erlass einstweiliger Maßnahmen. Ihr Fehlen lässt nicht ohne weiteres die Dringlichkeit des Begehrens entfallen. Ihr Fehlen kann aber dazu führen, dass der Antragsteller die Kosten zu tragen hat, wenn der Antragsgegner unmittelbar zu Beginn des Verfahrens eine Unterlassungs- und Verpflichtungserklärung abgibt (Fortführung von CoA, Anordnung vom 24.10.2024, CoA_2-2024, APL_83-2024 – Edwards/Meril).

Auch ohne vorherige Abmahnung und trotz unmittelbar abgegebener Unterlassungs- und Verpflichtungserklärung nach Einleitung eines Verfahrens auf Erlass einstweiliger Maßnahmen sind dem Antragsgegner die Kosten aufzuerlegen, wenn eine vorherige Abmahnung entbehrlich war, weil sie von vornherein keinen Erfolg versprach oder infolge der Abmahnung die Gefahr bestanden hätte, dass das geltend gemachte Recht vor einer gerichtlichen Entscheidung endgültig vereitelt worden wäre.

Hat der Antragsgegner bereits ein gerichtliches Verfahren auf Erlass einer Anti-Suit Injunction oder Anti-Enforcement Injunction eingeleitet, ist eine Abmahnung durch den Antragsteller vor einem Antrag auf Erlass einer Anti-Anti-Suit Injunction oder Anti-Anti-Enforcement Injunction regelmäßig entbehrlich, weil davon auszugehen ist, dass ihr der Antragsgegner nicht nachkommen wird, sofern keine konkreten Anhaltspunkte für ein anderes Verhalten sprechen.