BGH, 2024 – X ZR 120/22 – Kraftfahrzeugschloss

BGH, Urteil vom 22. Oktober 2024 – X ZR 120/22 – Kraftfahrzeugschloss

Amtlicher Leitsatz:

Die Übernahme eines im Stand der Technik offenbarten Betätigungsmechanismus für eine ähnliche Vorrichtung kann auch dann naheliegen, wenn dieser Mechanismus zwar eine weitere, für die ähnliche Vorrichtung nicht benötigte Funktion erfüllt, im Stand der Technik aber ausdrücklich auf die beiden unterschiedlichen Funktionen hingewiesen wird und diese ohne weiteres voneinander getrennt werden können.

EPG, Berufungsgericht, Anordnung v. 10. Dezember 2024 – UPC_CoA_470/2023

EPG, Berufungsgericht, Anordnung v. 10. Dezember 2024 – UPC_CoA_470/2023

Amtlicher Leitsatz:

Die Aufhebung gemäß Art. 75(1) EPGÜ [→ Entscheidung des Berufungsgerichts und Zurückverweisung] und R. 242.1 EPGVO [→ Zurückweisung oder Aufhebung der Entscheidung] einer Anordnung des Gerichts erster Instanz, mit der eine einstweilige Verfügung erlassen worden ist, ist in der Regel rückwirkend. Die Anordnung wird aufgehoben, weil durch eine rechtskräftige Anordnung des Berufungsgerichts festgestellt worden ist, dass die Anordnung nicht hätte erlassen werden dürfen. Eine aufgehobene Anordnung ist daher als von Anfang an ohne rechtliche Wirkung zu betrachten. Daraus folgt, dass die Aufhebung einer Anordnung des Gerichts erster Instanz, mit der eine einstweilige Verfügung unter Androhung von Zwangsgeldern erlassen worden ist, die rechtliche Grundlage für jede nachfolgende Entscheidung, die die Zahlung von Zwangsgeldern anordnet, beseitigt, selbst wenn diese Entscheidung mutmaßliche Verstöße gegen die einstweilige Verfügung vor der Aufhebung betrifft

Aus der Entscheidungsbegründung:

Diese Auslegung des EPGÜ und der Verfahrensordnung steht im Einklang mit der Richtlinie 2004/48/EG [→ Richtlinie zur Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums] des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums (im Folgenden: Richtlinie 2004/48). Nach Artikel 3 der Richtlinie 2004/48 müssen die von den Mitgliedstaaten vorgesehenen Mittel zur Sicherstellung der Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums gerecht, wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein und so angewendet werden, dass die Einrichtung von Schranken für den rechtmäßigen Handel vermieden wird und die Gewähr gegen ihren Missbrauch gegeben ist. Der Gerichtshof der Europäischen Union (im Folgenden: EuGH) hat klargestellt, dass der EU-Gesetzgeber damit beabsichtigte, ein Gleichgewicht zwischen einem hohen Schutzniveau der Rechte des geistigen Eigentums und den Rechten und Freiheiten des Beklagten zu schaffen (EuGH, 11. Januar 2024, C-473/22, ECLI:EU:C:2024:8, Mylan/Gilead, Rn. 44). Dementsprechend fordert die Richtlinie 2004/48 einerseits rasche und wirksame einstweilige Maßnahmen, um mutmaßliche Verletzungen zu verhindern, ohne dass der Antragsteller endgültige Beweise für die Verletzungen vorlegen muss. Andererseits hat der EU-Gesetzgeber verschiedene Rechtsinstrumente vorgesehen, die es ermöglichen, das Risiko, dass der Beklagte durch einstweilige Maßnahmen Schaden erleidet, umfassend zu mindern und so seinen Schutz sicherzustellen. So sehen beispielsweise Art. 7(4)  [→ Entschädigung bei unberechtigten Beweissicherungsmaßnahmen] und Art. 9(7)  [→ Entschädigung bei unberechtigten Maßnahmen] der Richtlinie 2004/48 Maßnahmen vor, die es dem Beklagten ermöglichen, Entschädigung zu verlangen, wenn die einstweiligen Maßnahmen aufgehoben werden (vgl. Art. 60(9)  [→ Entschädigung bei Aufhebung der Maßnahmen] und Art. 62(5) [→ Anwendung von Artikel 60 auf Maßnahmen] UPCA). Die Aufhebung einer Zwangsgeldanordnung, die auf einer aufgehobenen einstweiligen Maßnahme basiert, steht im Einklang mit diesem Ziel.

EPG, Lokalkammer Düsseldorf, Beschl. v. 3. Dezember 2024 – UPC_CFI_140/2024

EPG, Lokalkammer Düsseldorf, Beschl. v. 3. Dezember 2024 – UPC_CFI_140/2024

In einem Streit um die Bereitstellung einer Sicherheit für Prozesskosten entschied das Einheitspatentgericht, dass sowohl der Kläger als auch der Beklagte im Sinne der Regel 158 EPGVO [→ Sicherheitsleistung für die Kosten einer Partei] zur Bereitstellung von Sicherheiten für Prozesskosten verpflichtet werden können. Das Gericht benutzte sein Ermessen unter Berücksichtigung der finanziellen Lage der Parteien und der Durchsetzbarkeit von Kostenentscheidungen, um die Beklagte auf Antrag der Klägerin zur Bereitstellung einer Sicherheit für Prozesskosten zu verpflichten. Es wurde festgestellt, dass die Regel 158 EPGVO in Einklang mit Art. 69(4) EPGÜ steht und auch gegen Beklagte angewandt werden kann, was durch das Ziel des EPGÜ, ein faires Gleichgewicht zwischen den Interessen der Rechteinhaber und anderer Parteien zu schaffen, gestützt wird.


Amtliche Leitsätze:

1. Nicht nur dem Kläger, sondern auch dem Beklagten kann aufgegeben werden, eine Sicherheit für die Verfahrenskosten im Sinne von R. 158 EPGVO [→ Sicherheitsleistung für die Kosten einer Partei] zu leisten.

2. Wenn der Kläger eine solche Sicherheit für Verfahrenskosten von dem Beklagten verlangt, hat das Gericht zu berücksichtigen, dass der Kläger freiwillig beschlossen hat, einen Rechtsstreit zu führen. Diese Tatsache hat Auswirkungen auf die Interessenabwägung bei der Ausübung des Ermessens nach Regel 158 EPGVO [→ Sicherheitsleistung für die Kosten einer Partei]. Dabei muss das Gericht besonders darauf achten, dass das Recht des Beklagten auf ein faires Verfahren geschützt wird und insbesondere, dass dem Beklagten nicht die Möglichkeit genommen wird, seinen Fall wirksam vor Gericht darzustellen.

Aus den Entscheidungsgründen:

Die Befugnis zur Anordnung der Stellung einer angemessenen Sicherheit für Prozesskosten beruht auf Artikel 69(4) EPGÜ [→ Sicherheitsleistung für Kosten des Beklagten]. Aus dem Wortlaut von Artikel 69(4) folgt, dass die Anordnung an den Beklagten, auf Antrag des Klägers eine Sicherheit für Prozesskosten zu stellen, nicht ausgeschlossen ist. Artikel 69(4) EPGÜ stellt eine Mindestnorm dar für die Umstände, unter denen diese Abhilfe verfügbar sein muss (siehe den Wortlaut ‚insbesondere‘ in Art. 69(4) EPGÜ).

Das Auflegen einer Sicherheit ist eine Vorsichtsmaßnahme, um das Recht zu wahren, dass, als allgemeine Regel, die unterliegende Partei die angemessenen und verhältnismäßigen Prozesskosten der obsiegenden Partei trägt (festgelegt in Artikel 69(1) EPGÜ [→ Kostenverteilung bei obsiegender Partei]).

Artikel 69 EPGÜ behandelt die Prozesskosten und unterscheidet zwischen der ‚erfolgreichen‘ und der ‚erfolglosen‘ Partei, ohne den Status einer Partei als ‚Kläger‘, ‚Beklagter‘ (oder anders) zu erwähnen. Daraus folgt, dass Artikel 69(4) EPGÜ nicht auf die spezifischen Umstände – oder Parteien – beschränkt ist, die genannt werden.

Die obigen Grundsätze gelten nach Maßgabe für die Situation wie im vorliegenden Fall, in dem der Kläger die Partei ist, die die Sicherheitsanordnung beantragt. Das Gericht erkennt jedoch auch an, dass die Anordnung einer Sicherheit für Prozesskosten typischerweise dazu dient, die Position und (potenziellen) Rechte eines Beklagten zu schützen, der nicht gewählt hat, das Hauptverfahren einzuleiten.

Besondere Vorsicht muss dabei vom Gericht gewahrt werden, dass das Recht des Beklagten auf ein faires Verfahren geschützt wird (Artikel 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, erwähnt in der Präambel des EPGÜ), insbesondere, dass dem Beklagten nicht die Möglichkeit genommen wird, seinen Fall effektiv vor dem Gericht zu präsentieren.

EPG, Zentralkammer Paris, Beschl. v. 26. November 2024 – UPC_CFI_164/2024

EPG, Zentralkammer Paris, Beschl. v. 26. November 2024 – UPC_CFI_164/2024

Amtlicher Leitsatz:

Die Reduzierung der geforderten Schadensersatzsumme in einer Verletzungsklage sollte als Änderung der Klage betrachtet werden [Regel 263 EPGVO → Zulassung von Klageänderungen oder -erweiterungen], genauer gesagt als Beschränkung der Klage, und muss vom Gericht gewährt werden, wenn sie mit hinreichender Begründung und bedingungslos eingereicht wird, gemäß Regel 263 (3) er EPGVO [→ Bedingungslose Beschränkung eines Klageanspruchs].

EPG, Lokalkammer München, Beschl. v. 9. Dezember 2024 – UPC_CFI_509/2023

EPG, Lokalkammer München, Beschl. v. 9. Dezember 2024 – UPC_CFI_509/2023

Amtliche Lezsätze (Übersetzung):

Regel 275.1 EPGVO [→ Anordnung eines alternativen Verfahrens oder Ortes] gilt auch, wenn eine ausländische Behörde den formalen Zustellungsversuch nach dem Haager Zustellungsübereinkommen ernsthaft und endgültig verweigert. Eine ernsthafte Zustellungsverweigerung liegt auch vor, wenn ein Zustellungsersuchen ohne ersichtlichen Grund länger als sechs Monate nicht bearbeitet wird.

Um als alternative Zustellungsmethode (Regel 275.1 EPGVO → Anordnung eines alternativen Verfahrens oder Ortes) anerkannt zu werden, muss die Methode faktisch und rechtlich möglich sein.

Gemäß Regel 275.2 EPGVO [→ Rechtsgültige Zustellung durch alternative Schritte] ist ein erfolgloser Versuch, Dokumente nach Regel 274.1 a) (ii) EPGVO [→ Verfahren zur Zustellung außerhalb der Vertragsmitgliedstaaten] zuzustellen, in der Regel nicht als ordnungsgemäße Zustellung akzeptabel. Nur wenn ein Zustellungsversuch unter Regel 274 EPGVO gescheitert ist und eine Zustellung durch eine alternative Methode oder an einem alternativen Ort weder möglich noch zumutbar ist, kann das Gericht anordnen, dass ein erfolgloser Zustellungsversuch unter Regel 274 EPGVO als ordnungsgemäße Zustellung gilt.

Aus der Entscheidungsbegründung:

In dieser Entscheidung des Einheitspatentgerichts, Lokalkammer München, behandelte das Gericht ein Verfahren über einstweilige Maßnahmen, bei dem die Antragstellerin, air up group GmbH aus München, gegen die in China ansässige Guangzhou Aiyun Yanwu Technology Co., Ltd. vorging. Die zentrale Problematik drehte sich um die Schwierigkeiten bei der Zustellung der Antragsdokumente an den Beklagten gemäß dem Haager Zustellungsübereinkommen. Trotz erheblicher Anstrengungen beider Parteien, sowohl formell als auch informell, die Dokumente zuzustellen, verzögerte sich der Prozess erheblich, da die chinesische Behörde nicht reagierte. Nach über sechs Monaten ohne Fortschritt entschied das Gericht unter Berufung auf Regel 275.2 EPGVO, dass die bisherigen Schritte zur Zustellung als ordnungsgemäße Zustellung anerkannt werden. Diese Entscheidung berücksichtigt die Dringlichkeit der vorläufigen Maßnahmen und betont, dass weitere Verzögerungen unzumutbar wären. Das Gericht ordnete außerdem an, dass die getroffenen Entscheidungen auf der Website des Gerichts veröffentlicht werden sollen.

EPG, Zentralkammer Paris, Beschl. v. 29. November 2024 – UPC_CFI_307/2023

EPG, Zentralkammer Paris, Beschl. v. 29. November 2024 – UPC_CFI_307/2023

Amtlicher Leitsatz (Übersetzung):

Das allgemeine Fachwissen ist Information, die der Fachmann aus schriftlichen Quellen oder praktischer Erfahrung im relevanten technischen Bereich kennt, und die am Stichtag verfügbar war: Es umfasst Wissen, das direkt aus vertrauten Informationsquellen zu dem spezifischen technischen Bereich verfügbar ist, aber nicht notwendigerweise alles öffentlich verfügbare Wissen, das möglicherweise nicht allgemein und gängig ist.

Aus der Entscheidungsbegründung:

Die Person des Fachmanns ist eine juristische Fiktion, die den durchschnittlichen Experten mit üblichem Vorwissen, durchschnittlichen Kenntnissen und praktischer Erfahrung im relevanten technischen Bereich darstellt, jedoch ohne erfinderisches Geschick oder kreative Fähigkeiten.

zu den Regel 13, 44 und 263 EPGVO:

Regel 44 EPGVO [→ Inhalt der Klage auf Nichtigerklärung] verlangt, dass eine Klageschrift in einer Nichtigkeitsklage die Nichtigkeitsgründe mit rechtlicher Begründung, die relevanten Tatsachen sowie vorhandene und geplante Beweismittel klar darlegt.

Ähnliche Anforderungen gelten für den Inhalt der Klageschrift in Verletzungsverfahren. Regel 13 EPGVO [→ Inhalt der Klageschrift] legt fest, dass die Klageschrift in einem Verletzungsverfahren die relevanten Tatsachen, die vorgelegten Beweismittel sowie die rechtlichen und sachlichen Gründe für die behauptete Patentverletzung, einschließlich einer möglichen Anspruchsauslegung, enthalten muss.

Diese Bestimmungen müssen jedoch im Lichte des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit interpretiert werden, wie er in der Präambel der EPGVO festgelegt ist. Dieser Grundsatz verlangt, dass den Parteien keine Aufgaben auferlegt werden, die zur Erreichung des festgelegten Ziels nicht notwendig sind. In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass Regel 44 der EPGVO lediglich eine „Angabe“ der relevanten Tatsachen verlangt. Dies unterstützt eine Interpretation, die einer übermäßig strikten Anwendung des „front-loaded“-Verfahrensprinzips entgegensteht.1)

Darüber hinaus muss dem Bedarf Rechnung getragen werden, der durch den Grundsatz der Verfahrenseffizienz gedeckt wird, übermäßige und übermäßig detaillierte Tatsachenbehauptungen sowie die Vorlage von mehrfachen Dokumenten zu vermeiden, wenn davon ausgegangen werden kann, dass diese dem Gegner bekannt sind und nicht bestritten werden. Dabei bleibt jedoch die Möglichkeit erhalten, diese Behauptungen und Beweise im Falle einer Anfechtung zu sichern.2)

Zudem können überflüssige und redundante Tatsachenbehauptungen sowie die Vorlage von Dokumenten die effektive Wahrnehmung des Verteidigungsrechts behindern, da sie der Gegenpartei eine Belastung auferlegen, die Berufung und die vorgelegten Beweise zu studieren. Sie können auch die effiziente Funktionsweise des Gerichts beeinträchtigen, indem sie das Gericht mit unnötigen Aktivitäten überlasten.3)

Es kann zusätzlich argumentiert werden, dass ein Dokument in einem späteren Stadium in das Verfahren eingebracht werden darf, wenn es während des Verfahrens erstellt oder einer Partei zugänglich wurde, vorausgesetzt, dies entspricht dem Grundsatz der Fairness, der eine Partei schützt, die mit der gebotenen Sorgfalt gehandelt hat.4)

Daraus lässt sich schließen, dass der Kläger in Nichtigkeitsverfahren verpflichtet ist, die Nichtigkeitsgründe, die das angefochtene Patent betreffen, sowie die relevanten Stand-der-Technik-Dokumente, die einen Mangel an Neuheit oder erfinderischer Tätigkeit belegen sollen, im Detail anzugeben. Dies definiert den Streitgegenstand und ermöglicht es dem Beklagten, die gegen ihn erhobenen Vorwürfe zu verstehen und eine angemessene Verteidigung vorzubereiten. Gleichzeitig erlaubt es dem Gericht, den Umfang seiner Zuständigkeit in Bezug auf die Klage zu bestimmen.5)

Folglich darf der Kläger keine neuen Nichtigkeitsgründe für das angefochtene Patent oder neue Dokumente einführen, die als neuheitsschädlich oder als überzeugende Ausgangspunkte für die Bewertung der erfinderischen Tätigkeit angesehen werden, und zwar in späteren Schriftsätzen. Dies würde zu einer Erweiterung oder zumindest einer Änderung des Streitgegenstands führen, was eine Änderung der Klage darstellt und in den Anwendungsbereich von Regel 263 EPGVO [→ Zulassung von Klageänderungen oder -erweiterungen] fällt. Dies ist nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Gerichts zulässig, nachdem nachgewiesen wurde, dass die Anforderungen dieser Regel erfüllt sind.6)

Ebenso muss der Kläger in der Klageschrift die Tatsachen angeben, die er für erforderlich hält, um seinen Anspruch zu begründen, zusammen mit den entsprechenden Beweismitteln.7)

Es ist jedoch zu beachten, dass der Kläger in bestimmten Situationen, die sich aus der Verteidigung des Beklagten ergeben, neue Tatsachen [→ Neue Tatsachen und Beweismittel] vorbringen muss, soweit diese geeignet sind, die bereits rechtzeitig vorgebrachten und vom Beklagten bestrittenen Haupttatsachen zu stützen. In diesem Fall rechtfertigt die Notwendigkeit, auf die Verteidigung des Beklagten zu reagieren – deren genaue Form der Kläger nicht vorhersehen konnte –, die Einführung solcher neuer Tatsachen in der Erwiderung auf die Verteidigung gegen die Nichtigkeitsklage.8)

Ebenso kann die Notwendigkeit entstehen, neue Beweismittel [→ Neue Tatsachen und Beweismittel] vorzulegen, wenn der Beklagte die vom Kläger vorgebrachten Tatsachen oder den Beweiswert der bereits beim Gericht eingereichten Beweismittel bestreitet.9)

Dies entspricht den Prinzipien, die vom Berufungsgericht festgelegt wurden (Entscheidung vom 21. November 2024, UPC_CoA_456/2024), wonach die Parteien zwar verpflichtet sind, ihren Fall so früh wie möglich im Verfahren darzulegen, dennoch spezifische neue Argumente unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Falles in das Verfahren aufgenommen werden können.10)

BGH, X ZR 125/22 – LP-Filterparameter-Umwandlung

BGH, Urteil vom 5. November 2024 – X ZR 125/22 – LP-Filterparameter-Umwandlung

Amtliche Leitsätze:

a) Bei der Suche nach Lösungen für ein bestimmtes technisches Problem im Bereich des Mobilfunks besteht grundsätzlich Anlass, Vorschläge aus dem Umfeld von Standardisierungsgruppen als Ausgangspunkt für weitergehende Überlegungen oder als Quelle zum Auffinden möglicher Lösungsansätze in Betracht zu ziehen. Dies gilt jedenfalls für solche Dokumente, die auf den in der Fachwelt bekannten Wegen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden sind.

b) Ein großer zeitlicher Abstand kann im Einzelfall gegen die Kombination von zwei Dokumenten sprechen, insbesondere dann, wenn sie auf unterschiedlichen technischen Ansätzen beruhen. Auch bei der Entwicklung neuer Standards liegt die Heranziehung älterer Dokumente jedoch nahe, wenn diese einen Lösungsansatz enthalten, der erkennbar auch im Umfeld der neueren Veröffentlichung eingesetzt werden kann.

c) Der Umstand, dass eine bestimmte Vorgehensweise zum Fachwissen gehört, legt deren Anwendung im Kontext einer im Stand der Technik aufgeworfenen neuen Fragestellung nicht ohne weiteres nahe.

UPC_CoA_548/2024, Entscheidung vom 29. November 2024

UPC_CoA_548/2024, APL_52969/2024, Entscheidung vom 29. November 2024

Amtliche Leitsätze (Übersetzung):

  • Bei der Entscheidung über einen Antrag auf Sicherheitsleistung für die Kosten:
    • ist es unerheblich, ob der Kläger zu einem finanziell soliden Unternehmensverbund gehört, falls keine Sicherheiten oder besonderen Umstände vorliegen. Es ist nur die finanzielle Lage des Klägers selbst relevant;
    • ist es unerheblich, ob der Kläger bereit ist, dem Beklagten die Kosten zu erstatten, wenn ein Kostenbeschluss zugunsten des Beklagten erlassen würde;
    • ist es ebenfalls unerheblich, ob ein Kostenbeschluss zugunsten des Beklagten erwartet wird. Das Gericht sollte sich nicht auf die Bewertung der Erfolgswahrscheinlichkeit des Falls einlassen;
    • ist es nicht erforderlich, dass nachgewiesen wird, dass eine Vollstreckung unmöglich ist. Es genügt, dass der Beklagte nachweist, dass die Vollstreckung eines Kostenbeschlusses unzumutbar belastend ist. Die Last, dies darzulegen, liegt bei dem Antragsteller eines Beschlusses zur Sicherheitsleistung für die Kosten. Zu diesem Zweck muss der Antragsteller nicht nur Beweise zum anwendbaren ausländischen Recht im Gebiet, in dem der Beschluss vollstreckt werden soll, vorlegen, sondern auch zu dessen Anwendung.

UPC_CFI_308/2023

Einheitspatentgericht, erstinstanzliche Kammer, zentrale Kammer (Sitz Paris), Entscheidung vom 27. November 2024, UPC_CFI_308/2023

Amtliche Leitsätze (Übersetzung)

1. Die rechtlichen Bestimmungen des Einheitspatentgerichts führen das sogenannte „front-loaded“ Verfahren ein, bei dem ein Kläger verpflichtet ist, seine Argumente und Beweise in der ersten schriftlichen Klage konkret auszuarbeiten. Diese Bestimmungen müssen jedoch im Lichte des Verhältnismäßigkeitsprinzips interpretiert werden, das erfordert, dass die Parteien nicht mit Aufgaben belastet werden, die zur Erreichung des Ziels unnötig sind, sowie im Lichte des Grundsatzes der Verfahrenseffizienz, der übermäßige und zu detaillierte Tatsachenvorträge und die Vorlage mehrerer Dokumente in Bezug auf Angelegenheiten, die der gegnerischen Partei bekannt und von ihr nicht bestritten werden, entgegensteht.

2. In Nichtigkeitsverfahren muss der Kläger im Detail die Nichtigkeitsgründe angeben, die das angefochtene Patent betreffen, sowie die Dokumente des Standes der Technik, auf die er sich zur Unterstützung eines behaupteten Mangels an Neuheit oder erfinderischer Tätigkeit stützt. Somit kann der Kläger in späteren Schriftsätzen keine neuen Nichtigkeitsgründe für das angegriffene Patent einführen oder neue Dokumente einreichen, die als neuheitsschädlich oder als überzeugender Ausgangspunkt für die Beurteilung mangelnder erfinderischer Tätigkeit angesehen werden.

3. In bestimmten Situationen, nach der Verteidigung des Beklagten, ist es dem Kläger gestattet, neue Tatsachen und neue Beweise vorzubringen, sofern diese geeignet sind, die schon rechtzeitig behaupteten und vom Beklagten bestrittenen Haupttatsachen oder den Beweiswert der bereits eingereichten Beweise zu stützen.

4. Auch wenn es grundsätzlich fraglich ist, ob eine veröffentlichte Patentanmeldung oder eine Patentschrift als Hinweis auf das allgemeine Fachwissen betrachtet werden kann, so kann trotzdem die Aussage des Autors des Patents, dass eine Lehre weit verbreitet ist, als Beweis dafür genommen werden, dass diese Lehre zum allgemeinen Fachwissen gehört.

BGH, X ZR 82/23 – Slice-Segmente

BGH, Urteil vom 17. September 2024 – X ZR 82/23 – Slice-Segmente

Amtliche Leitsätze:

a) Die Priorität einer früheren Anmeldung kann auch dann in Anspruch genommen werden, wenn die spätere Anmeldung ein zusätzliches Ausführungsbeispiel enthält, bei dem zwar einzelne Begriffe des Patentanspruchs in abweichendem Sinne verwendet werden, das aber auch nach dem ursprünglichen Begriffsverständnis unter den Patentanspruch fällt.

b) Dies gilt auch dann, wenn das zusätzliche Ausführungsbeispiel weitere, nicht im Patentanspruch vorgesehene Funktionen aufweist, die in der früheren Anmeldung nicht offenbart sind.

Aus den Entscheidungsgründen:

Der BGH entschied zugunsten der Beklagten und befand das Patent für rechtsbeständig. Er stellte fest, dass das Streitpatent die Priorität früherer Anmeldungen zu Recht in Anspruch nimmt und der maßgebliche Stand der Technik den Patentanspruch nicht vorwegnimmt oder nahelegt.

Das Bundespatentgericht hatte zunächst argumentiert, dass das Streitpatent die Priorität früherer Anmeldungen nicht wirksam in Anspruch nehmen könne, weil die zweite Ausführungsform des Patents zusätzliche Merkmale enthielt, die in den ursprünglichen Prioritätsunterlagen nicht offenbart seien. Dies betrifft insbesondere die Idee der „Slice-Segmente“, bei denen unabhängige und abhängige Segmente gemeinsam eine logische Einheit bilden und bestimmte Codierungs- und Decodierungsfunktionen übernehmen.

Der BGH stellte jedoch fest, dass diese zusätzlichen Merkmale und die abgewandelte Terminologie („Slice-Segmente“) zwar nicht in den Prioritätsunterlagen vorhanden sind, aber trotzdem keinen Einfluss auf das Verständnis und den Umfang der relevanten Merkmale des Patentanspruchs haben. Der Senat betonte, dass die zweite Ausführungsform als zusätzliches Beispiel dient, welches zwar weitere Funktionen bietet, jedoch die im Patentanspruch vorgesehenen Merkmale nicht verändert. Daher führen diese zusätzlichen Funktionen nicht zu einer Erweiterung oder Änderung des Anspruchsverständnisses.

Die zusätzlichen Merkmale und die abgewandelte Terminologie („Slice-Segmente“) kommen im Anspruch selbst nicht vor. Diese Elemente sind lediglich in der Beschreibung und den Ausführungsbeispielen des Streitpatents zu finden, wurden vom Bundespatentgericht jedoch als problematisch angesehen, da sie nicht in den Prioritätsunterlagen offenbart waren.