EPG, UPC_CFI_149/2024: „Argumentationsverbot“

EPG, Lokalkammer München, Anordnung v. 20. Juni 2025 – UPC_CFI_149/2024, ORD_69211/2024

Leitsätze der Entscheidung:

Der Anwendung einer Zuständigkeitsregelung (hier: Art. 33 Abs. 1 (a) EPGÜ → Zuständigkeit der Lokalkammern und Regionalkammern) steht nicht entgegen, dass die Klägerin in der Klageschrift ihre Begründung für die Zuständigkeit der Lokalkammer nicht explizit auf diese Regelung gestützt, sondern lediglich eine andere Vorschrift (hier: Art. 33 Abs. 1 (b) EPGÜ) erwähnt hat. Insofern gilt für die Erwiderung auf den Einspruch nichts anderes als auch für die Replik auf eine Klageerwiderung im
Verletzungsverfahren. Die Klägerin kann sich ergänzend auf die weitere Regelung stützen (Fortführung von Berufungsgericht, Anordnung v. 18.09.2024, UPC_CoA_265/2024, APL_30169/2024 – NST/VW; Anordnung v. 21.11.2024, UPC_CoA_456/2024, APL_44633/2024 – OrthoApnea).

Art. 33 Abs. 1 (b) S. 2 EPGÜ bezieht sich nicht auf Art. 33 Abs. 1 (a) EPGÜ. Weder ermöglicht die Regelung eine Klage gegen mehrere Beklagte, von denen nur einer eine Patentverletzung im Vertragsmitgliedsstaat der angerufenen Kammer begangen hat, noch knüpft sie eine einheitliche Klage gegen mehrere Beklagte, die allesamt Verletzungshandlungen in dem
betroffenen Vertragsmitgliedsstaat begangen haben oder dort ihren Sitz haben, an besondere Voraussetzungen. Art. 33 Abs. 1 (b) S. 2 EPGÜ stellt unter den dort verlangten Voraussetzungen eine Erweiterung der Zuständigkeitsregeln dar auf Klagen gegen Personen, die in dem betroffenen Vertragsmitgliedsstaat weder eine Patentverletzung begangen haben noch einen Sitz haben.

Aus der Entscheidungsbegründung:

Nach der Rechtsprechung des EPG gelten für die Einführung neuer rechtlicher Argumente Einschränkungen. Regel 13 VerfO  [→ Erforderliche Angaben in der Klageschrift] verlangt, dass die Klageschrift die Gründe enthält, warum die geltend gemachten Tatsachen eine Verletzung der Patentansprüche darstellen, einschließlich rechtlicher Argumente. Diese Bestimmung ist im Lichte des letzten Satzes von Erwägungsgrund 7 der Verfahrensordnung auszulegen, wonach die Parteien ihren Fall so früh wie möglich im Verfahren darlegen müssen. Allerdings schließt Regel 13 VerfO nicht aus, dass ein Kläger nach Einreichung der Klageschrift neue Argumente vorbringen kann. Ob ein neues Argument zulässig ist, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab, einschließlich der Gründe, warum der Kläger das Argument nicht bereits in der Klageschrift vorgebracht hat, und den verfahrensrechtlichen Möglichkeiten des Beklagten, auf das neue Argument zu reagieren. Bei dieser Beurteilung verfügt das erstinstanzliche Gericht über einen gewissen Ermessensspielraum (Berufungsgericht, Anordnung v. 21.11.2024, UPC_CoA_456/2024, APL_44633/2024 – OrthoApnea; vgl. auch vorangehend LK Brüssel, Anordnung v. 19. Juli 2024, APC_CFI_376/2023, ACT_581538/2023 – OrthoApnea). Insbesondere ist es nicht erforderlich, dass der Kläger alle möglichen Verteidigungslinien vorwegnimmt und alle Argumente, Tatsachen und Beweise in der Klageschrift aufführt und einreicht und dass danach nichts mehr hinzugefügt werden kann. Dies kann insbesondere dann der Fall sein, wenn der Kläger, nachdem er ein Argument in seiner Klageschrift vorgebracht hat, dieses Argument in seiner Replik gemäß Regel 29 (a) oder (b) RoP weiter begründet, um auf eine Einwendung des Beklagten gegen das ursprünglich vorgebrachte Argument in seiner Klageerwiderung zu reagieren (Berufungsgericht, Anordnung v. 18.09.2024, UPC_CoA_265/2024, APL_30169/2024 – NST/VW). Im Übrigen sind die vorstehenden Grundsätze vor dem allgemeinen Grundsatz zu verstehen, dass das Gericht das Recht kennt („iura novit curia“) und die Parteien lediglich den Tatsachenstoff liefern müssen („da mihi facta, do tibi ius“).

Anmerkung:

Der Ansatz des Einheitlichen Patentgerichts (EPG), rechtliche Argumente möglichst früh im Verfahren einzufordern, ist aus Gründen der Effizienz nachvollziehbar, birgt jedoch erhebliche Risiken für die materielle Gerechtigkeit. Zwar erlaubt die Verfahrensordnung im Einzelfall ein nachträgliches Vorbringen, doch bleibt dies dem Ermessen des Gerichts überlassen – was zu Intransparenz, Rechtsunsicherheit und einem formalen Verfahrensverständnis führen kann. Wird ein rechtliches Argument allein wegen „Verspätung“ ausgeschlossen, droht eine Verletzung des rechtlichen Gehörs und des Grundsatzes „iura novit curia“. Damit steht der EPG-Ansatz im Spannungsfeld zwischen Verfahrensökonomie und rechtsstaatlicher Fairness – eine Balance, die durch klarere Kriterien und stärkere gerichtliche Aufklärungspflichten verbessert werden müsste.

Macht das Gericht seine Entscheidung jedoch faktisch davon abhängig, ob und wann eine Partei ein bestimmtes rechtliches Argument einführt, wird die richterliche Rechtsanwendung an formale Prozessregeln gebunden – im Widerspruch zur Pflicht, aus dem festgestellten Sachverhalt die rechtlichen Schlüsse selbstständig zu ziehen. Ein solcher Umgang gefährdet die materielle Gerechtigkeit und läuft dem Zweck eines auf Rechtserkenntnis ausgerichteten Verfahrens zuwider.


G 1/24: Beschreibung und Zeichnungen stets maßgeblich für die Auslegung

G 1/24, Große Beschwerdekammer, Beschluss v. 18.06.2025

Die Große Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts hat am 18. Juni 2025 in der Sache G 1/24 (Vorlage T 0439/22-3.2.01) entschieden. Die Entscheidung wird demnächst im Amtsblatt des EPA veröffentlicht.

Ausgangspunkt war eine Vorlagefrage der Technischen Beschwerdekammer 3.2.01, die klären wollte, nach welchen Grundsätzen Patentansprüche bei der Prüfung von Neuheit und erfinderischer Tätigkeit auszulegen sind [→ Auslegung der Patentansprüche]. In der Spruchpraxis der Beschwerdekammern hatte sich eine Divergenz herausgebildet: Ein Teil der Entscheidungen zog Beschreibung und Zeichnungen nur heran, wenn der Anspruchswortlaut unklar erschien, ein anderer Teil bezog sie stets in die Auslegung ein. Die Kammer erklärte das Vorlageersuchen insoweit für zulässig und wies lediglich eine dritte, weitergehende Frage als nicht entscheidungserheblich zurück.

Die Große Beschwerdekammer entschied, dass für die Interpretation von Ansprüchen bei der Patentierbarkeitsprüfung keine einzelne Vorschrift des EPÜ als alleinige Rechtsgrundlage taugt. Weder Artikel 69 EPÜ [→ Bestimmung des Schutzbereichs] in Verbindung mit dem Protokoll noch Artikel 84 EPÜ seien für sich genommen vollständig. Die Auslegung müsse sich deshalb auf Systematik, Telos und gefestigtes Richterrecht stützen. Gleichwohl seien die Wertungen von Artikel 69 EPÜ analog heranzuziehen, um eine einheitliche Praxis zwischen EPA und späteren Verletzungsgerichten – insbesondere dem Einheitspatentgericht – zu gewährleisten.

Kern der Entscheidung ist die Feststellung, dass Beschreibung und Zeichnungen immer heranzuziehen sind, wenn ein Fachmann den Inhalt eines Anspruchs im Rahmen von Artikel 52 bis 57 EPÜ verstehen muss; eine Beschränkung auf Fälle eindeutiger Unklarheit wird ausdrücklich verworfen. Zugleich betont die Kammer das Vorrangig-sein von Klarheitskorrekturen: Unklarheiten sind primär durch Anspruchsänderungen nach Artikel 84 EPÜ zu beseitigen, nicht durch eine bloße „korrigierende“ Auslegung.

Amtlicher Leitsatz:

Die Patentansprüche sind der Ausgangspunkt und die Grundlage für die Beurteilung der Patentierbarkeit einer Erfindung nach den Artikeln 52 bis 57 EPÜ. Die Beschreibung und die Zeichnungen sind bei der Beurteilung der Patentierbarkeit einer Erfindung nach den Artikeln 52 bis 57 EPÜ stets zur Auslegung der Ansprüche [→ Bestimmung des Schutzbereichs] heranzuziehen – und zwar nicht nur dann, wenn der Fachmann einen Anspruch für sich genommen als unklar oder mehrdeutig empfindet.

Aus der Entscheidungsbegründung:

In ihrer Begründung unterstreicht die Kammer, dass eine voneinander abweichende Praxis zwischen EPA, EPG und nationalen Gerichten „höchst unattraktiv“ wäre. Zudem stellt sie klar, dass schon die Feststellung angeblicher Eindeutigkeit einen Interpretationsakt darstellt. Schließlich hebt sie hervor, dass Definitionen in der Beschreibung regelmäßig verbindlich sind und nur in qualifizierten Ausnahmefällen ignoriert werden dürfen.

EPG, UPC_CoA_402/2024: Entscheidung über einen Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens

EPG, Berufungskammer, Beschl. v. 19. Juni 2025 – UPC_CoA_402/2024

Leitsatz:

Das Berufungsgericht setzt die allgemeinen Grundsätze dar, die bei der Entscheidung über einen Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens aufgrund eines grundlegenden Verfahrensfehlers gemäß Art. 81(1)(b) EPGÜ [→ Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens] i.V.m. Regel 247(c) EPGVO [→ Verletzung von Artikel 76 des Übereinkommens] zu berücksichtigen sind (grundlegender Verfahrensfehler; grundlegende Verletzung von Art. 76 EPGÜ).

Rechtssätze der Entscheidungsgründe (übersetzt)

Die Gesetzgeber haben ausdrücklich bestimmt, dass Entscheidungen des Berufungsgerichts endgültig sind. Eine weitere Berufung gegen diese Entscheidungen ist im EPGÜ oder der EPGVO nicht vorgesehen.

Art. 81(1) EPGÜ [→ Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens] eröffnet die Möglichkeit, nach einer endgültigen Entscheidung die Wiederaufnahme des Verfahrens zu beantragen, wenn – kurz gesagt – diese auf einer Handlung beruht, die als Straftat eingestuft wurde, oder wenn ein grundlegender Verfahrensfehler vorliegt. Diese Umstände dürfen nicht bekannt gewesen sein oder, bei einem grundlegenden Verfahrensfehler, sofern bekannt, während des Verfahrens, das zur Entscheidung geführt hat, oder im Berufungsverfahren bereits gerügt worden sein (vgl. R. 248 EPGVO), es sei denn, eine solche Rüge konnte damals nicht erhoben werden.

Der Wortlaut des Art. 81(1) EPGÜ macht deutlich, dass eine Wiederaufnahme nur ausnahmsweise gewährt werden darf, wenn die Entscheidung an einem dieser schwerwiegenden Mängel leidet. Die Wiederaufnahme ist somit kein reguläres Rechtsmittelverfahren, sondern ein außergewöhnliches Rechtsmittel. Nur grundlegende Verfahrensfehler können eine Grundlage für die Wiederaufnahme bilden.

Es ist daher nicht beabsichtigt, dass bloße Fehler jeglicher Art einen Grund für die Wiederaufnahme eines Verfahrens darstellen können. Um als Grund für eine Wiederaufnahme zu qualifizieren, muss ein Verfahrensfehler so fundamental sein, dass er für das Rechtssystem untragbar ist und das Prinzip überwiegt, dass Verfahren, die zu einer endgültigen Entscheidung geführt haben, im Interesse der Rechtssicherheit nicht wiedereröffnet werden sollen.

Ein Mangel kann außerdem nur dann als grundlegend angesehen werden, wenn festgestellt werden kann, dass ohne diesen Mangel nicht dieselbe Entscheidung getroffen worden wäre (vgl. Urteil vom 3. Juli 2014, Kamino International Logistics und Datema Hellmann Worldwide Logistics, C-129/13 und C-130/13, EU:C:2014:2041, Rn. 79 und die dort zitierte Rechtsprechung). Dies hat der Antragsteller darzulegen.


Es ist Sache der Parteien, die von ihnen für erheblich erachteten Argumente vorzubringen. Die Bewertung der von den Parteien vorgetragenen Argumente und die daraus gezogenen Schlussfolgerungen können für sich genommen nicht Gegenstand einer Überprüfung im Rahmen eines Wiederaufnahmeverfahrens sein. Wie sich aus dem Vorstehenden ergibt, gilt dies selbst dann, wenn eine solche Bewertung als fehlerhaft angesehen werden könnte, solange der Fehler keinen grundlegenden Mangel im Sinne des Art. 81(1) EPGÜ darstellt.

Dasselbe gilt für Beweismittel. Es ist Sache der Parteien, sämtliche zur Untermauerung ihrer Argumente erforderlichen Beweismittel vorzulegen. Das Gericht bewertet die von den Parteien vorgelegten Beweise frei und unabhängig (Art. 76(3) EPGÜ). Das Gericht kann selbst beurteilen, welches Gewicht Gutachten von Sachverständigen und Zeugenaussagen haben, wobei es auch seine Einschätzung der Neutralität eines Sachverständigen oder Zeugen berücksichtigen darf. Die Art und Weise, wie Fragen gestellt oder Antworten formuliert werden, kann bei dieser Beurteilung einen Anhaltspunkt bilden.

Es ist Aufgabe des Gerichts, die Relevanz für den Streitgegenstand und die Notwendigkeit der Vernehmung der benannten und beantragten Zeugen zu beurteilen. Ebenso besteht grundsätzlich keine Verpflichtung für das Gericht, einen der als Beweismittel vorgelegten Sachverständigen anzuhören. Dies gilt umso mehr in Verfahren über vorläufige Maßnahmen. Gemäß letzter Satz von R. 210.2 EPGVO findet Teil 2 der Beweisregeln auf diese Verfahren nur insoweit Anwendung, wie das Gericht dies bestimmt.

Wird eine Tatsachenbehauptung von keiner Partei ausdrücklich bestritten, gilt sie nach R. 171.2 EPGVO zwischen den Parteien als wahr. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die für diese Tatsache geltend gemachte Rechtsfolge automatisch daraus folgt. Es obliegt immer noch dem Gericht zu entscheiden, ob die vorgetragenen Tatsachen die geltend gemachte Rechtsfolge rechtfertigen (Berufungsgericht, Kodak v Fujifilm, 17. April 2025, UPC_CoA_312/2025, Rn. 12).

Die Auslegung eines Patentanspruchs ist eine Rechtsfrage (Berufungsgericht, Insulet v EoFlow, 30. April 2025, UPC_CoA_768/2024, Rn. 37). Bei der Auslegung eines Anspruchs hat das Berufungsgericht festzustellen, wie die Fachkraft die im Patentanspruch verwendeten Begriffe im Kontext des Gesamtpatentanspruchs und unter Berücksichtigung der Beschreibung und Zeichnungen versteht. Hierbei werden die vorgebrachten Argumente und Tatsachen, einschließlich etwaiger Sachverständigengutachten, frei und unabhängig gewürdigt, jedoch ohne daran gebunden zu sein.

Insofern gibt es keinen Grund, weshalb die Entscheidung der Technischen Beschwerdekammern in Einspruchsverfahren bezüglich des Streitpatents, sofern sie von einer der Parteien vorgebracht wird, nicht als Anhaltspunkt für die Ansichten des Fachmanns zum Anmeldetag herangezogen werden könnte.


Das Gericht ist frei, in Rechtsfragen eigene Feststellungen zu treffen. Die Parteien haben die relevanten Rechtsnormen, einschließlich hierzu entwickelter Rechtsprechung, zu kennen und deren eventuelle Anwendung im konkreten Fall zu antizipieren.

Zu der Rechtsprechung, deren Kenntnis von den Parteien verlangt werden kann, gehören die Entscheidungspraxis der Technischen Beschwerdekammern (TBA) und der Großen Beschwerdekammer (EBA) des Europäischen Patentamts (EPA), sofern sie für die vorliegende Frage und die vorgebrachten Argumente relevant ist. Zwar ist das Berufungsgericht an diese Rechtsprechung nicht gebunden, es besteht jedoch Anlass, insbesondere TBA- und noch mehr EBA-Entscheidungen zu berücksichtigen, da sie die gleichen materiell-rechtlichen Vorschriften des Europäischen Patentübereinkommens (EPÜ) anwenden wie das Gericht. Einen ähnlichen Ansatz verfolgen auch die nationalen Gerichte der Vertragsmitgliedstaaten und anderer EPÜ-Vertragsstaaten wie das Vereinigte Königreich, deren nationales Recht im Wesentlichen auf den materiell-rechtlichen Vorschriften des EPÜ beruht. Parteivertreter müssen daher mit der relevanten von TBA und EBA entwickelten Rechtsprechung vertraut sein.


Relevante Rechtsnormen: Allgemeiner Rechtsgrundsatz im Kontext EPÜ
„Eine Gerichtsentscheidung muss die Gründe und die Tatsachen sowie Argumente enthalten, auf die das Gericht seine Entscheidung stützt (R. 350 EPGVO). Das Gericht muss alle von den Parteien vorgebrachten Argumente berücksichtigen, ist aber nicht verpflichtet, in seinem Beschluss oder Urteil explizit und ausführlich auf jedes einzelne Argument einzugehen. Das Gericht kann Argumente, die irrelevant oder offensichtlich fehlerhaft sind, außer Acht lassen oder ein Argument implizit zurückweisen, etwa wenn dessen Ablehnung aus weiteren Erwägungen des Gerichts hervorgeht. Dies gilt erst recht für in Anlagen, wie etwa Gutachten, vorgebrachte Argumente. Im Verfahren über vorläufige Maßnahmen ist der anzuwendende Prüfungsmaßstab insoweit niedriger.

Das rechtliche Gehör spiegelt sich in Art. 76(2) EPGÜ wider, der vorsieht, dass Entscheidungen in der Sache nur auf Gründe, Tatsachen und Beweise gestützt werden dürfen, die von den Parteien vorgebracht wurden oder durch gerichtlichen Beschluss in das Verfahren eingeführt wurden, und zu denen die Parteien Gelegenheit zur Stellungnahme hatten. Es ist nicht erforderlich, dass eine Partei immer Gelegenheit haben muss, sich schriftlich zu äußern.

Sofern die Entscheidung nicht objektiv unvorhersehbar war und keine Überraschung für den gut informierten Vertreter enthielte, beispielsweise, weil sie mit der etablierten Rechtsprechung unvereinbar oder von dieser grundlegend abweicht oder sich auf zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung noch nicht bekannte Rechtsprechung stützt, ist das Gericht nicht verpflichtet, den Parteien im Vorfeld seine (vorläufige) Auffassung zu einer Streitfrage oder deren Grundlage mitzuteilen, weder in einer Zwischenkonferenz noch in einer vor der mündlichen Verhandlung abgegebenen vorläufigen Einschätzung. Weder das EPGÜ noch die EPGVO sehen ein solches System vor. Das Gericht kann eine vorläufige Einführung zur Klage (R. 112.4 EPGVO) liefern, die eine vorläufige Einschätzung enthalten kann, aber nicht enthalten muss.

Auch wenn Art. 76(2) EPGÜ sich auf Entscheidungen in der Sache bezieht, gilt das rechtliche Gehör grundsätzlich auch im Verfahren über vorläufige Maßnahmen, wobei dort ein weniger strenger Maßstab anzulegen ist oder – abhängig von den Umständen – das Prinzip gar nicht gilt (zum Beispiel in ex-parte-Verfahren, in denen aber, um dem Beklagten soweit wie möglich Gehör zu verschaffen, eine Schutzschrift, sofern eingereicht, nebst etwaiger Korrespondenz zwischen den Parteien und weiteren maßgeblichen Tatsachen, die der Antragsteller gemäß R. 205.3(b) und .4 EPGVO vorlegen muss, zu berücksichtigen ist (R. 207.8 EPGVO)).

EPG, UPC_CoA_156/2025: Zeitliche Zuständigkeit des EPG

EPG, Berufungskammer, Beschl. v. 02. Juni 2025 – UPC_CoA_156/2025

Das Berufungsgericht des Einheitspatentgerichts hatte über die Berufung einer Unternehmensgruppe gegen einen Beschluss der Lokalkammer München zu entscheiden. In dem angefochtenen Beschluss war eine vorläufige Einrede der mangelnden Zuständigkeit des Gerichts in einem Patentverletzungsverfahren zurückgewiesen worden. Die Berufung stützte sich auf die Auffassung, das Einheitliche Patentgericht (EPG) sei nicht zuständig für Verletzungshandlungen, die vor dem Inkrafttreten des Übereinkommens über ein Einheitliches Patentgericht (EPGÜ) am 1. Juni 2023 oder während eines wirksam erklärten Opt-outs stattgefunden hätten.

Die Klage war von einem Unternehmen erhoben worden, das sich auf ein europäisches Patent berief, für das ein zuvor erklärter Opt-out zurückgezogen worden war. Das Berufungsgericht bestätigte die Zuständigkeit des EPG und stellte klar, dass Artikel 32 Absatz 1 EPGÜ [→ Ausschließliche Zuständigkeit des Gerichts für Patentklagen] keine zeitliche Beschränkung vorsieht. Die Einrichtung des Gerichts diene dem Ziel, einen einheitlichen Rechtsrahmen für Patente in Europa zu schaffen. Auch für Handlungen vor dem 1. Juni 2023 bestehe daher die Zuständigkeit des EPG, sofern das betreffende Patent nach Rücknahme eines Opt-outs wieder in den Anwendungsbereich des EPGÜ fällt.

Eine Vorlage an den Europäischen Gerichtshof hielt das Berufungsgericht nicht für erforderlich. Die Entscheidung über die Kosten wurde dem erstinstanzlichen Gericht vorbehalten. Die Berufung wurde insgesamt abgewiesen.

Die Entscheidung enthält Leitsätze (übersetzt):

  • Art. 32(1) EPGÜ [→ Ausschließliche Zuständigkeit des Gerichts für Patentklagen], als Bestimmung eines zwischenstaatlich abgeschlossenen internationalen Vertrages, ist gemäß den Prinzipien des Völkergewohnheitsrechts, die Teil der EU-Rechtsordnung sind, auszulegen.
  • Das Fehlen einer zeitlichen Beschränkung der Zuständigkeitsregeln gemäß Art. 32(1) EPGÜ spiegelt den Zweck und das Ziel des Abkommens wider, ein gemeinsames Gericht für die Vertragsmitgliedstaaten zu schaffen, das in deren Rechtssystem integriert ist und dem Gericht die (ausschließliche) Zuständigkeit für die in Art. 32 (1) EPGÜ genannten Klagen und Widerklagen zu übertragen, um die Schwierigkeiten eines fragmentierten Patentmarktes in Europa und die Unterschiede zwischen den nationalen Gerichtssystemen zu vermeiden.
  • In Ermangelung gegenteiliger Bestimmungen legen diese Ziele und Zwecke des EPGÜ keinerlei zeitliche Begrenzung des Gerichts nahe oder implizieren solche.
  • Art. 3 EPGÜ [→ Geltungsbereich] regelt nicht den zeitlichen Anwendungsbereich des Abkommens in Bezug auf Handlungen, die die darin aufgeführten Rechte verletzen. Er lässt daher offen, ob Handlungen, die vor dem Inkrafttreten erfolgt sind, in den Anwendungsbereich des Abkommens fallen.
  • Während der Übergangszeit gemäß Art. 83 EPGÜ [→ Übergangsregelung], und sofern das Patent nicht gemäß Art. 83(3) EPGÜ [→ Opt-out] aus der ausschließlichen Zuständigkeit des Gerichts ausgeschlossen wurde, besteht die (ausschließliche) Zuständigkeit des EPGÜ parallel zu einer gleichzeitigen Zuständigkeit der nationalen Gerichte, bei denen eine Klage wegen Patentverletzung weiterhin anhängig gemacht werden kann. Obwohl sie während der Übergangszeit eine gleichzeitige Zuständigkeit vorsieht, bei der der Patentinhaber die Möglichkeit hat, entweder vor dem EPGÜ oder vor einem nationalen Gericht Klage zu erheben, beschränkt sich diese Option auf die Wahl des Gerichtsstandes und führt nicht zu einer teilweisen oder eingeschränkten Zuständigkeit des gewählten Gerichts, weder in Bezug auf den Gegenstand (die Patentverletzung) der Klage noch auf den Zeitraum, für den das gewählte Gericht zuständig ist.
  • Die Bestimmung der Zuständigkeit des Gerichts ab dem Zeitpunkt der Einreichung der Klage, einschließlich für Handlungen der Verletzung, die vor dem Inkrafttreten des Abkommens stattgefunden haben, widerspricht nicht dem Grundsatz der Nicht-Rückwirkung von Verträgen gemäß den Prinzipien des Völkergewohnheitsrechts und Art. 28 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge, das in Wien am 23. Mai 1969 genehmigt wurde („WÜRV“).
  • Im Falle eines wirksamen Widerrufs von einem effektiven Opt-out ist das EPGÜ zuständig, über die angeblichen Verletzungshandlungen zu entscheiden, die im Zeitraum zwischen dem Datum des Opt-out und dem des Widerrufs erfolgt sind.

EPG, UPC_CFI_59/2025: Keine Abmahnung vor einstweiliger Maßnahme erforderlich bei ASI/AEI-Bedrohung

EPG, Lokalkammer München, Beschl. v. 19. Mai 2025 – UPC_CFI_59/2025

Die Lokalkammer München des Einheitlichen Patentgerichts befasste sich mit einem Antrag auf einstweilige Maßnahmen im Zusammenhang mit zwei europäischen Patenten. Das Verfahren wurde gegenstandslos, nachdem die Antragsgegnerin eine strafbewehrte Unterlassungs- und Verpflichtungserklärung abgegeben hatte. In diesem Fall entschied das Gericht, dass der Antrag auf Erlass einstweiliger Maßnahmen zurückgewiesen wird, die erlassene Anordnung vom 28. Januar 2025 damit wirkungslos ist und die Kosten des Verfahrens der Antragsgegnerin aufzuerlegen sind.

Es wurde festgestellt, dass in Fällen, in denen eine Anti-Suit Injunction (ASI) oder Anti-Enforcement Injunction (AEI) droht, eine Abmahnung nicht erforderlich ist, da davon ausgegangen werden kann, dass die Antragsgegnerin nicht darauf reagieren wird. Die Kostenentscheidung beruht auf der Tatsache, dass die Antragsgegnerin durch die Unterlassungserklärung sich in die Lage der unterlegenen Partei begab und keine Billigkeitsgründe eine andere Kostenverteilung rechtfertigten.

Das Gericht stellte klar, dass eine ex-parte Entscheidung in dringlichen Fällen gerechtfertigt ist, wenn die Gefahr besteht, dass das Recht des Antragstellers durch zuvor erlassene Entscheidungen anderweitiger Gerichte vereitelt werden könnte. Der Antrag auf Erlass einstweiliger Maßnahmen war somit nicht offensichtlich unbegründet oder unzulässig, woher die Kostenregelung zugunsten der Antragstellerin resultiert.

Gerichtliche Leitsätze:

Kommt es für die Kostentragungspflicht im Rahmen einer Entscheidung nach Regel 360 VerfO [→ Erledigung der Hauptsache] darauf an, ob die Beklagte Veranlassung zur Klageerhebung gegeben hat, ist auf die objektive Sicht einer Person in der Position der Klägerin im Zeitpunkt der Klageeinreichung abzustellen. Es ist zu fragen, ob die Klägerin zu diesem Zeitpunkt davon ausgehen durfte, nicht ohne gerichtliche Hilfe zu ihrem Recht zu kommen.

Eine Abmahnung ist nicht Voraussetzung für die Zulässigkeit oder Begründetheit eines Antrags auf Erlass einstweiliger Maßnahmen. Ihr Fehlen lässt nicht ohne weiteres die Dringlichkeit des Begehrens entfallen. Ihr Fehlen kann aber dazu führen, dass der Antragsteller die Kosten zu tragen hat, wenn der Antragsgegner unmittelbar zu Beginn des Verfahrens eine Unterlassungs- und Verpflichtungserklärung abgibt (Fortführung von CoA, Anordnung vom 24.10.2024, CoA_2-2024, APL_83-2024 – Edwards/Meril).

Auch ohne vorherige Abmahnung und trotz unmittelbar abgegebener Unterlassungs- und Verpflichtungserklärung nach Einleitung eines Verfahrens auf Erlass einstweiliger Maßnahmen sind dem Antragsgegner die Kosten aufzuerlegen, wenn eine vorherige Abmahnung entbehrlich war, weil sie von vornherein keinen Erfolg versprach oder infolge der Abmahnung die Gefahr bestanden hätte, dass das geltend gemachte Recht vor einer gerichtlichen Entscheidung endgültig vereitelt worden wäre.

Hat der Antragsgegner bereits ein gerichtliches Verfahren auf Erlass einer Anti-Suit Injunction oder Anti-Enforcement Injunction eingeleitet, ist eine Abmahnung durch den Antragsteller vor einem Antrag auf Erlass einer Anti-Anti-Suit Injunction oder Anti-Anti-Enforcement Injunction regelmäßig entbehrlich, weil davon auszugehen ist, dass ihr der Antragsgegner nicht nachkommen wird, sofern keine konkreten Anhaltspunkte für ein anderes Verhalten sprechen.

EPG – UPC_CoA_845/2024: Auskunftsverpflichtung

EPG, Berufungskammer, Beschl. v. 30. Mai 2025 – UPC_CoA_845/2024

Gerichtliche Leitsätze:

1. Der Antrag nach Art. 67 Abs. 1 EPGÜ [→ Anordnung der Auskunftserteilung durch den Verletzer], die Erteilung einer Auskunft anzuordnen [→ Auskunftsverpflichtung], muss in der Regel die (ab der Mitteilung nach R. 118.8 Satz 1 EPGVO oder im Verfahren betreffend die Anordnung einstweiliger Maßnahmen ab der Zustellung einer solchen Anordnung laufende) Frist zur Auskunftserteilung enthalten. Die Frist ist damit bereits in der Entscheidung oder in der endgültigen Anordnung zu setzen. Erfolgt keine Fristsetzung in der endgültigen Anordnung oder Entscheidung, ist es Sache des Klägers, mit der Mitteilung der Vollstreckungsabsicht nach R. 118.8 EPGVO dem Beklagten auch eine Frist für die Auskunftserteilung zu setzen.

2. Da das Zwangsgeld nicht lediglich Beugefunktion sondern auch Strafcharakter hat, ist eine Verhängung des Zwangsgeldes auch dann gerechtfertigt, wenn der Beklagte inzwischen, aber verspätet, seiner Verpflichtung aus der Anordnung der Auskunftserteilung nachgekommen ist.

3. Die Darlegungs- und Beweislast für die Behauptung, die Erfüllung der Verpflichtung aus der Anordnung der Auskunftserteilung sei erfüllt, obliegt dem Beklagten.

4. Nach Art. 67 Abs. 1 b) EPGÜ [→ Anordnung der Auskunftserteilung durch den Verletzer] sind auch Angaben über Preise, die vom Verletzer für die angegriffenen Ausführungsformen bezahlt wurden (Herstellerpreise), geschuldet.

5. Art. 67 Abs. 1 EPGÜ [→ Anordnung der Auskunftserteilung durch den Verletzer] lässt offen, ob die Auskunft in Schriftform oder in elektronischer Form erteilt werden muss. Ergibt sich aus der Anordnung der Auskunftserteilung nicht, in welcher Form die Auskunft zu erteilen ist, steht es dem Beklagten grundsätzlich frei, die Auskunft wahlweise in Papierform oder elektronisch zu erteilen.

EPG, UPC_CFI_230/2024: mehrere „realistische Ausgangspunkte“ für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit

EPG, Zentralkammer Paris, Beschl. v. 21. Mai 2025 – UPC_CFI_230/2024

In der Entscheidung der Zentralkammer Paris geht es um ein Patent für ein Verfahren und ein System zur Erkennung von Ballkontakten im Sport, insbesondere zur Unterstützung von Schiedsrichtern bei der Abseitsentscheidung im Fußball. Die Zentralkammer erklärte das Patent für nichtig, weil es gegenüber dem Stand der Technik nicht neu und nicht erfinderisch sei.

Gerichtliche Leitsätze:

Ein weit gefasster, allgemeiner Begriff, der in einem Hauptanspruch verwendet wird, ist nicht auf ein Verständnis zu beschränken, das sich aus den spezifischeren oder engeren Merkmalen ergibt, die in einem abhängigen Anspruch oder in der Beschreibung offenbart werden. Stattdessen zeigen der abhängige Anspruch und/oder die Beschreibung lediglich mögliche Ausführungsformen der patentierten Erfindung, die zusätzliche Vorteile bieten können.

Ausführungsformen dienen im Allgemeinen dazu, Optionen für die Verwirklichung der Erfindung zu beschreiben, und erlauben daher keine einschränkende Auslegung eines allgemeineren Patentanspruchs. In der Patentbeschreibung erwähnte Ausführungsformen erlauben nur den Schluss, dass sie unter den Anspruch fallen; sie schränken den Schutzbereich des Patentanspruchs jedoch nicht ein.

Aus der Entscheidungsbegründung:

Diese Entscheidung UPC_CFI_230/2024 baut in Punkt 8.5 auf der in der früheren Entscheidung UPC_CFI_311/2023 etablierten Möglichkeit, mehrere realistische Ausgangspunkte bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit zu berücksichtigen, auf, indem sie explizit feststellt, dass es nicht notwendig ist, den „vielversprechendsten“ Ausgangspunkt zu identifizieren:

„Um zu beurteilen, ob eine beanspruchte Erfindung für einen Fachmann naheliegend war oder nicht, ist es zunächst notwendig, einen Ausgangspunkt im Stand der Technik zu bestimmen.“

„Es muss eine Begründung dafür geben, warum der Fachmann einen bestimmten Teil des Standes der Technik als realistischen Ausgangspunkt betrachten würde.“

„Ein Ausgangspunkt ist realistisch, wenn seine Lehre für einen Fachmann von Interesse gewesen wäre, der zum Prioritätszeitpunkt des Streitpatents ein ähnliches Produkt oder Verfahren wie das im Stand der Technik offenbarte entwickeln wollte, das somit ein ähnliches zugrunde liegendes Problem wie die beanspruchte Erfindung aufweist (vgl. Beschluss vom 26. Februar 2024 in UPC_CoA_335/2023, NanoString/10x Genomics, S. 34)“

„Es kann mehrere realistische Ausgangspunkte geben.“

Es ist nicht notwendig, einen „vielversprechendsten“ Ausgangspunkt [-> „nächstliegender Stand der Technik“] zu identifizieren.“

Anmerkung:

Die Zentralkammer Paris des Einheitlichen Patentgerichts nimmt mit Punkt 8.5 der Entscheidung UPC_CFI_230/2024 eine vom EPA abweichende Haltung zur Bestimmung des Ausgangspunkts für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit ein. Während das Europäische Patentamt (EPA) in seinen Richtlinien für die Prüfung (Abschnitt G-VII, 5.1) im Rahmen des „Aufgabe-Lösungs-Ansatzes“ fordert, den „erfolgversprechendsten“ Ausgangspunkt („nächstliegender Stand der Technik“) zu identifizieren, stellt die Zentralkammer Paris klar, dass es mehrere realistische Ausgangspunkte geben kann – und dass es nicht erforderlich ist, den „vielversprechendsten“ auszuwählen.

Diese Abweichung verweist auf einen weniger schematischen Zugang zur Prüfung der Erfindungshöhe. Dabei steht nicht die Suche nach einem einzigen idealen Ausgangspunkt im Vordergrund, sondern die Nachvollziehbarkeit, warum ein Fachmann überhaupt einen bestimmten Stand der Technik zur Lösung des technischen Problems herangezogen hätte.

Diese Herangehensweise der Zentralkammer Paris steht im Einklang mit der ständigen deutschen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Auswahl eines geeigneten Ausgangspunkts für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit.

Der BGH betont wiederholt, dass es nicht auf den „nächstkommenden“ oder „nächstliegenden“ Stand der Technik ankommt. Vielmehr ist entscheidend, ob sich dem Fachmann ein bestimmter Stand der Technik aus seiner Sicht als sinnvoller Ausgangspunkt anbot, um eine bessere oder alternative Lösung für ein technisches Problem zu finden.

So heißt es u. a. in BGH, GRUR 2009, 382 – Olanzapin:

„Die Einordnung eines bestimmten Ausgangspunkts als – aus Ex-post-Sicht – nächstkommender Stand der Technik ist weder ausreichend noch erforderlich.“

Und weiter in BGH, GRUR 2017, 498 – Gestricktes Schuhoberteil:

„Die Wahl des Ausgangspunkts bedarf einer besonderen Rechtfertigung, die in der Regel in dem Bemühen des Fachmanns liegt, für einen bestimmten Zweck eine bessere oder andere Lösung zu finden, als sie der Stand der Technik zur Verfügung stellt.“

Auch das Urteil BGH, GRUR 2009, 1039 – Fischbissanzeiger stellt klar:

„Bei der Beurteilung des Naheliegens […] kann nicht stets der ‚nächstkommende‘ Stand der Technik als alleiniger Ausgangspunkt zugrunde gelegt werden. Die Wahl eines Ausgangspunkts (oder auch mehrerer Ausgangspunkte) bedarf vielmehr einer besonderen Rechtfertigung, die in der Regel aus dem Bemühen des Fachmanns abzuleiten ist, für einen bestimmten Zweck eine bessere – oder auch nur eine andere – Lösung zu finden, als sie der Stand der Technik zur Verfügung stellt (vgl. BGHZ 179, 168 Tz. 51 – Olanzapin). Für ein ausschließliches Abstellen auf einen „nächstkommenden“ Stand der Technik bietet auch das Übereinkommen über die Erteilung europäischer Patente (Europäisches Patentübereinkommen) vom 5. Oktober 1973 (BGBl. 1976 II 649) keine Grundlage.“

Innerhalb des EPA existieren unterschiedliche Sichtweisen bezüglich der Herangehensweise bei der Bestimmung des Ausgangspunktes für die Bewertung der erfinderischen Tätigkeit. So gibt es bei den Beschwerdekammern Rechtsprechung, die sowohl den Ansatz der Prüfungsrichtlinien bestätigt als auch solche, die eher in Richtung der Herangehensweise des EPG bzw. des BGH geht.

Viele ältere Entscheidungen der Beschwerdekammern folgen dem etablierten Aufgabe-Lösungs-Ansatz strikt und betonen die objektive Ermittlung des „nächstliegenden Stands der Technik“ anhand fester Kriterien (ähnlicher Zweck, ähnliche Wirkung, geringste strukturelle Änderungen). Beispielsweise legt die Entscheidung T 24/81 (ABl. 1983, 133) den Grundstein für diesen Ansatz, indem sie die Bedeutung des „gleichen Zwecks“ oder „gleichen Problems“ und des „ähnlichen Gebiets der Technik“ hervorhebt. In der Rechtsprechung wurde der „nächstliegende Stand der Technik“ oft als das „erfolgversprechendste Sprungbrett“ zur Erfindung bezeichnet (siehe z.B. T 254/86). Diese Sichtweise impliziert, dass es den einen besten Ausgangspunkt gibt, von dem aus der Fachmann die Erfindung am ehesten hätte entwickeln können. In der Entscheidung T 1742/12 wurde diese Sichtweise noch verstärkt, indem festgestellt wurde, dass, wenn ein Stand der Technik als „nächstliegender“ oder „erfolgversprechendstes Sprungbrett“ identifiziert werden kann und gezeigt wird, dass die Erfindung ausgehend von diesem Stand der Technik nicht naheliegend ist, auf eine Beurteilung ausgehend von anderem Stand der Technik verzichtet werden kann.

Allerdings gibt es auch Entscheidungen der Beschwerdekammern, die diese Sichtweise relativieren. So argumentierte eine Kammer in T 64/16, dass es zwar sinnvoll sei, die Untersuchung auf „erfolgversprechende“ Dokumente zu beschränken, es aber nicht erforderlich sei, das „erfolgversprechendste“ Sprungbrett auszuwählen und andere Dokumente auszuschließen. Diese Spannung in der Rechtsprechung zeigt, dass es unterschiedliche Auffassungen darüber gibt, wie strikt der Aufgabe-Lösungs-Ansatz anzuwenden ist und inwieweit andere Dokumente berücksichtigt werden können, selbst wenn sie nicht als der „nächstliegende Stand der Technik“ gelten. Diese Tendenz zu einer flexibleren und realitätsbezogeneren Herangehensweise zeigt sich auch in Entscheidungen, die eine Abkehr vom „Dogma des nächstliegenden Stands der Technik“ erkennen lassen (siehe z.B. T 1148/15, die feststellt, dass sich die Annahme, wonach der übrige Stand der Technik weniger relevant sei, als falsch erweisen kann, und T 405/14, die anerkennt, dass der Begriff „nächstliegender Stand der Technik“ unterschiedliche Bedeutungen haben kann und es nicht unbedingt den einen nächstliegenden Stand der Technik geben muss). In einigen Entscheidungen, wie beispielsweise in T 870/96, wird den „gegebenen Umständen“ der Erfindung, wie der Bezeichnung des Gegenstands, der Formulierung der ursprünglichen Aufgabe, der beabsichtigten Verwendung und der zu erzielenden Wirkungen, generell mehr Gewicht beigemessen als einer Höchstzahl identischer technischer Merkmale, was auf eine stärkere Berücksichtigung des Gesamtzusammenhangs hindeutet.

Die aktuelle Fassung der EPA-Prüfungsrichtlinien (Abschnitt G-VII, 5.1) ist demgemäß weniger dogmatisch als frühere Versionen. Sie spiegelt aber erkenntlich ein Spannungsfeld wider, indem sie zwar an der Definition des „nächstliegenden Stands der Technik“ als „erfolgversprechendsten Ausgangspunkt“ festhält, aber gleichzeitig einräumt, dass mehrere gleichwertige Ausgangspunkte existieren können; sie versucht jedoch, diese Flexibilität zu begrenzen, indem sie fordert, dass die Gleichwertigkeit „überzeugend gezeigt“ wird und die mangelnde erfinderische Tätigkeit ausgehend von nur einem relevanten Stand der Technik nachgewiesen werden kann.

Fazit: Die Position der Zentralkammer Paris – dass mehrere realistische Ausgangspunkte bestehen können und ein „vielversprechendster“ Ausgangspunkt nicht zwingend zu ermitteln ist – reflektiert eine differenzierte, flexible Sichtweise, wie sie auch der BGH seit langer Zeit vertritt. Sie steht im Gegensatz zur stärker schematisierten EPA-Praxis, die regelmäßig nach dem „nächstliegenden Stand der Technik“ verlangt – wenn auch am EPA eine sehr deutliche Tendenz zu erkennen ist, von der schematischen Suche nach dem „nächstliegenden Stand der Technik“ abzurücken.

EPG, UPC_CFI_501/2023: „Problem-solution Approach“ am Einheitspatentgericht

EPG, Lokalkammer München, Urt. v. 4. April 2025 – UPC_CFI_501/2023

Die Entscheidung enthält folgende Leitsätze:

  1. Art. 33(1)(b) EPGÜ [→ Zuständigkeit der Lokalkammern und Regionalkammern] erlaubt es, mehrere Beklagte am Wohnsitz, Hauptgeschäftssitz oder, falls dies nicht möglich ist, am Geschäftsstandort eines der Beklagten zu verklagen, vorausgesetzt, dass die Beklagten eine Handelsbeziehung haben und die Klage dieselbe angebliche Verletzung betrifft. Im Kontext eines europäischen Patents ohne einheitliche Wirkung bezeichnet der Ausdruck „dieselbe Verletzung“ Situationen, in denen mehreren Beklagten vorgeworfen wird, die relevanten nationalen Benennungen desselben europäischen Patents durch dasselbe Produkt oder Verfahren verletzt zu haben. Eine andere Auslegung würde den Zweck des Übereinkommens über ein einheitliches Patentgericht untergraben, die fragmentierte Patentstreitlandschaft in Europa zu überwinden (Präambel 2 der EPGÜ).
  2. Für die Beurteilung, ob eine Erfindung angesichts des Stands der Technik als naheliegend anzusehen ist [Artikel 65 (2) → Gründe für die Nichtigkeit eines Patents], soll der von der europäischen Patentorganisation entwickelte „problem-solution approach“ vorrangig angewendet werden, soweit dies möglich ist, um die Rechtssicherheit zu erhöhen und die Rechtsprechung des Einheitlichen Patentgerichts weiter mit der Rechtsprechung der europäischen Patentorganisation und der Beschwerdekammern in Einklang zu bringen.
  3. Eine Unterlassungserklärung ohne Vertragsstrafeverpflichtung durch einen oder zwei, aber nicht alle Beklagten, die Mitglieder einer Gruppe von Unternehmen sind, die gemeinsam ein Patent verletzt haben, kann das Interesse des Patentinhabers, die exklusive Natur seines Rechts zu verteidigen, nicht in der gleichen Weise sichern wie eine gerichtliche Anordnung. Das Risiko bleibt bestehen, dass sich die Mitglieder der Gruppe um solche isolierten Unterlassungserklärungen herum neu organisieren und das Patent in den relevanten Gebieten weiterhin verletzen, ohne das Risiko eingehen zu müssen, eine Vertragsstrafe zahlen zu müssen.
  4. Wenn eine Entscheidung unmittelbar und direkt ab dem Zeitpunkt der Zustellung in jedem der Vertragsmitgliedstaaten gemäß Regel 354.1 EPGVO [→ Unmittelbare Vollstreckbarkeit] vollstreckbar ist, muss keine Sicherheit im Voraus geleistet werden, und es besteht keine Bedingung gemäß Regel 118.2.a EPGVO. Regel 118.8 EPGVO muss jedoch eingehalten werden.

Aus der Entscheidungsbegründung:

Das Gericht erster Instanz und das Berufungsgericht des Einheitlichen Patentgerichts haben den erfinderischen Schritt in verschiedenen Entscheidungen geprüft. Einige Entscheidungen bezogen sich ausdrücklich auf den Aufgabe-Lösungs-Ansatz, wie er vom Europäischen Patentamt (EPA), einschließlich der Beschwerdekammern, sowie von mehreren nationalen Gerichten angewendet wird; andere wendeten einen anderen Ansatz an, der dem von der deutschen Bundesgerichtshof verwendeten Test zur erfinderischen Tätigkeit ähnlich, wenn nicht sogar identisch ist. Beide Tests, der „deutsche“ Test und der Aufgabe-Lösungs-Ansatz, sollten, wenn sie korrekt angewendet werden, in der Mehrzahl der Fälle zum selben Ergebnis führen (vgl. Deichfuss, GRUR Patent 2024, 94). Beide Tests erfordern einen „realistischen Ausgangspunkt“ und einen „Anreiz“ für die Fachperson, den „nächsten Schritt“ zu machen, also beispielsweise die technische Lösung, die durch den Ausgangspunkt offenbart ist, so zu verändern, dass sie zur patentierten Lösung führt. Da keiner der Tests im Europäischen Patentübereinkommen (EPÜ) verankert ist und beide im Wesentlichen zu denselben Ergebnissen führen, können beide als Instrument zur Beurteilung des erfinderischen Schritts herangezogen werden. Dennoch trifft dieses Spruchkörper die Entscheidung, den vom EPA einschließlich der Beschwerdekammern praktizierten Aufgabe-Lösungs-Ansatz anzuwenden, soweit dies möglich ist, und dies ausdrücklich festzuhalten, da ein Bedürfnis nach Rechtssicherheit sowohl für die Nutzer des Systems als auch für die verschiedenen Kammern des Einheitlichen Patentgerichts besteht. Die Anwendung des Aufgabe-Lösungs-Ansatzes bringt die Rechtsprechung des Einheitlichen Patentgerichts zudem weiter in Einklang mit der Rechtsprechung des EPA und der Beschwerdekammern.

Anmerkung:

Das Urteil der Lokalkammer München bringt mit seiner ausdrücklichen Präferenz für den Aufgabe-Lösungs-Ansatz des Europäischen Patentamts (EPA) eine Weichenstellung für die Rechtsprechung des Einheitlichen Patentgerichts (UPC).

Die Intention des Gerichts ist nachvollziehbar: Mit der einheitlichen Anwendung des Aufgabe-Lösungs-Ansatzes wird eine kohärente Rechtsprechung angestrebt, die sich an den bekannten Standards des EPA orientiert und dadurch die Vorhersehbarkeit für Verfahrensbeteiligte erhöhen soll. In einem System, das grenzüberschreitende Streitigkeiten über europäische Patente bündelt, erscheint dies zunächst als konsequente Harmonisierung.

Allerdings ist kritisch anzumerken, dass der Aufgabe-Lösungs-Ansatz seiner Natur nach lediglich ein methodisches Hilfsmittel zur Strukturierung der Prüfung der erfinderischen Tätigkeit darstellt, nicht jedoch eine starre Rechtsvorgabe. Der Begriff der „erfinderischen Tätigkeit“ ist im europäischen wie auch im einheitlichen Patentrecht bewusst als unbestimmter Rechtsbegriff ausgestaltet worden. Er soll die notwendige Flexibilität bieten, um den Anforderungen sich wandelnder technischer Entwicklungen und komplexer Einzelfallkonstellationen gerecht zu werden.

Die richterliche Entscheidung, den Aufgabe-Lösungs-Ansatz „vorrangig“, wenn auch nicht zwingend, zur Anwendung zu bringen, birgt daher die Gefahr einer Dogmatisierung dieses Ansatzes. Dabei darf nicht übersehen werden, dass auch innerhalb des Aufgabe-Lösungs-Ansatzes erhebliche Wertungsspielräume bestehen – insbesondere bei der Definition des objektiv technischen Problems und der Frage, ob für die Fachperson ein Anreiz bestand, zur beanspruchten Lösung zu gelangen. Die vermeintliche Vorhersehbarkeit des Ergebnisses wird durch diese inhärente Subjektivität erheblich relativiert.

Wird der Aufgabe-Lösungs-Ansatz zu einer faktischen Verpflichtung erhoben, besteht das Risiko, dass die notwendige Flexibilität bei der rechtlichen Bewertung unterbleibt. Gerade komplexe oder interdisziplinäre Erfindungen könnten dann unter ein starres Schema gezwungen werden, das der Vielfalt technischer Lösungsansätze nicht immer gerecht wird. Dies könnte zu einer Formalisierung der Prüfung führen, bei der die entscheidende Würdigung der technischen Umstände des Einzelfalls hinter die bloße Anwendung des Schemas zurücktritt.

EPG, Berufungsgericht, UPC_CoA_835/2024: „Schriftsatzverbot“ vor dem Einheitlichen Patentgericht

EPG, Berufungsgericht, Verfahrensanordnung vom 24. März 2025 – UPC_CoA_835/2024

In der Entscheidung des Berufungsgerichts des Einheitlichen Patentgerichts vom 24. März 2025 wird der Antrag der Berufungsklägerinnen auf eine weitere schriftliche Stellungnahme im Berufungsverfahren gegen die Berufungsbeklagte abgelehnt. Der Streit drehte sich um die Vorlage von Lizenzverträgen im Zusammenhang mit einem kartellrechtlichen Zwangslizenzeinwand bezüglich eines europäischen Patents. Das Gericht entschied, dass eine solche Stellungnahme zum jetzigen Zeitpunkt des Verfahrens unzulässig ist, da sie gegen die Regelungen der Verfahrensordnung des Einheitlichen Patentgerichts (EPGVO) verstößt, die einen weiteren Schriftsatzaustausch nicht vorsehen, es sei denn, es wurde eine Anschlussberufung eingelegt. Ein solcher Antrag kurz vor einer mündlichen Verhandlung widerspricht dem Grundsatz der fairen und ausgewogenen Verfahrensführung und der Waffengleichheit der Parteien gemäß dem Übereinkommen über ein Einheitliches Patentgericht (EPGÜ). Ferner sah das Gericht keine Notwendigkeit, die Berufungsbeklagte vor dieser Verfahrensanordnung zu hören, da ihre Rechte nicht berührt wurden. Diese Entscheidung soll eine effiziente Rechtsdurchführung unterstützen und Verzögerungen des Verfahrens vermeiden.

Aus der Entscheidungsbegründung:

„Zusätzliche Berufungsgründe, die nicht innerhalb der in R. 224.2 VerfO [→ Fristen für die Berufungsbegründung] für die Berufungsbegründung vorgesehenen Frist vorgebracht werden, sind nicht zulässig. Daraus ergibt sich, dass ein weiterer Austausch von Schriftsätzen in der Verfahrensordnung des EPG nicht vorgesehen ist, es sei denn, dass eine Anschlussberufung gemäß R. 237 und 238 VerfO eingelegt wurde.“

„Gleichwohl gebietet es auch hier der Grundsatz der fairen und ausgewogenen Verfahrensführung insbesondere unter dem Gesichtspunkt der Waffengleichheit, wie er in Art. 42(2) EPGÜ und Absatz 5 der Präambel der Verfahrensordnung niedergelegt ist, in Verbindung mit dem Grundsatz der effizienten Verfahrensführung wie er in Art. 41(3) EPGÜ und Absatz 4 der Präambel der Verfahrensordnung vorgesehen ist, den Antrag auf Zulassung einer schriftlichen Stellungnahme zurückzuweisen.“

Anmerkung:

Diese Entscheidung des Berufungsgerichts des Einheitlichen Patentgerichts verdeutlicht eine potenziell problematische Auslegung des rechtlichen Gehörs im Berufungsverfahren. Dort wurde ein Antrag der Berufungsklägerin auf Zulassung eines weiteren Schriftsatzes – gestützt auf neu zugänglich gewordene Lizenzverträge und eine nachgereichte Sachverständigenstellungnahme – mit Verweis auf die formale Beschränkung des schriftlichen Verfahrens (R. 224 ff. VerfO) abgelehnt. Das Gericht stellte klar, dass ein weiterer Schriftsatz außerhalb des vorgesehenen Kontingents grundsätzlich unzulässig sei, selbst wenn relevante Unterlagen erst nach Ablauf der Berufungsbegründungsfrist vorlagen. Anstelle einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem neuen Vorbringen stellte es dabei vorrangig auf den Grundsatz der Waffengleichheit ab und führte aus, dass eine schriftliche Stellungnahme der Berufungsklägerin kurz vor der mündlichen Verhandlung zu einer prozessualen Unausgewogenheit zulasten der Berufungsbeklagten führen würde.

Diese Praxis steht in einem Spannungsverhältnis zum verfassungsrechtlich garantierten Anspruch auf rechtliches Gehör (Artikel 47 Absatz 2 GRCh → Recht auf ein faires Verfahren; Art. 103 Abs. 1 GG → Anspruch auf rechtliches Gehör). Auch wenn die Entscheidung auf Prinzipien wie Verfahrenseffizienz und Waffengleichheit verweist, wird der Rechtsschutz faktisch verkürzt, wenn erheblicher neuer Vortrag pauschal unbeachtet bleibt. Die restriktive Auslegung birgt das Risiko, effektiven Rechtsschutz zugunsten formaler Prozessökonomie über Gebühr zurückzudrängen. Es bedarf daher einer verfahrensoffenen und einzelfallbezogenen Prüfung, ob ergänzender Vortrag – insbesondere zu neuen Beweismitteln – zumindest zur Kenntnis genommen werden muss.

Ferner stützt sich das Gericht auf Regel 233.3 EPGVO [-→ Unzulässigkeit von verspäteten Berufungsgründen], um die Unzulässigkeit einer weiteren schriftlichen Stellungnahme zu begründen. Diese Vorschrift regelt jedoch lediglich, dass neue Berufungsgründe nach Ablauf der Frist für die Berufungsbegründung nicht mehr vorgebracht werden dürfen. Sie enthält hingegen keine Aussage darüber, dass jegliche spätere Argumente, Beweismittel oder fachliche Stellungnahmen, die zur Stützung fristgerecht vorgetragener Berufungsgründe dienen, per se unzulässig wären. Die Entscheidung verkennt insofern die systematische Abgrenzung zwischen neuen Berufungsgründen und ergänzendem Vortrag zu bereits eingeführten Streitpunkten. Eine solche überdehnte Anwendung von Regel 233.3 EPGVO birgt das Risiko, den Zugang zu rechtlichem Gehör unverhältnismäßig zu beschränken.

EPG, UPC_CFI_112/2025: Anti-Anti-Suit Injunction durch die Lokalkammer München des EPG

EPG, Lokalkammer München, Anordnung vom 19. Februar 2025 – UPC_CFI_112/2025

Die Lokalkammer München des Einheitlichen Patentgerichts erließ eine Anordnung [Artikel 62 (1) → Verfügungen gegen angebliche Verletzer] zugunsten der Antragstellerinnen, um eine Anti-Anti-Suit Injunction (AASI) zu erlassen. Diese Anordnung wurde aufgrund der drohenden Gefahr erlassen, dass die Antragsgegnerinnen eine Anti-Suit Injunction (ASI) bei chinesischen Gerichten einleiten könnten, um die Patentinhaberin daran zu hindern, ihre Patentrechte gerichtlich durchzusetzen. Die Anordnung soll verhindern, dass die Antragsgegnerinnen die Patentinhaberin daran hindern, Patentverletzungsverfahren in Europa durchzuführen oder entstehende Urteile zu vollstrecken.

Das Einheitliche Patentgericht, Lokalkammer München, sah konkrete und greifbare Anhaltspunkte für eine drohende Anti-Suit Injunction (ASI), weil die Antragsgegnerinnen bereits heimlich ein Lizenzratenbestimmungsverfahren („Rate-Setting“) vor einem chinesischen Gericht eingeleitet hatten, ohne die Antragstellerinnen zu informieren. Die Zustellung der europäischen Patentverletzungsklagen auf der Messe EuroCIS am 18. Februar 2025 erhöhte die Wahrscheinlichkeit, dass die Antragsgegnerinnen mit einer ASI reagieren würden, um die Durchsetzung der Klagen zu verhindern. Da chinesische Gerichte ASIs regelmäßig kurzfristig und ex parte erlassen, bestand die Gefahr, dass die Patentinhaberin an der gerichtlichen Durchsetzung ihrer Patente gehindert würde oder erhebliche Strafzahlungen riskieren müsste. Zudem zeigte die strategische Verzögerungstaktik der Antragsgegnerinnen, dass sie ein starkes Interesse daran hatten, das chinesische Rate-Setting-Verfahren vor einer europäischen Gerichtsentscheidung zu schützen. Angesichts dieser Umstände entschied das Gericht, dass eine Anti-Anti-Suit Injunction (AASI) erforderlich war, um die gerichtliche Durchsetzbarkeit der europäischen Patente zu sichern.

Außerdem wurde ausnahmsweise auf eine Sicherheitsleistung verzichtet, da eine solche den Antragstellern binnen der kurzen Zeitspanne nicht möglich war. Das Gericht verpflichtete die Antragsgegnerinnen zur Zahlung eines Zwangsgeldes bei Zuwiderhandlung gegen die Anordnung.

Die Entscheidung enthält folgende Leitsätze:

  1. Die Verletzung eines Rechts des Patentinhabers droht im Sinne von Art. 62 Abs. 1 EPGÜ dann, wenn die Verletzung noch nicht eingetreten ist, aber aufgrund konkreter Umstände ernsthafte und greifbare tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sich der Antragsgegner in naher Zukunft rechtswidrig verhalten wird. Die Verletzungshandlung muss sich konkret abzeichnen. Es muss nur noch vom Willen des Antragsgegners abhängen, ob der letzte Schritt zum Beginn der Verletzung umgesetzt wird. Dies hängt von den Umständen des jeweiligen Einzelfalls ab.
  2. Im Fall einer Anti-Suit Injunction tritt die Verletzung des Eigentumsrechts des Patentinhabers zwar erst mit dem Erlass der Anti-Suit Injunction durch ein anderes Gericht ein, die Verletzungshandlung besteht jedoch in der auf ihren Erlass gerichteten Antragstellung durch den Verletzer.
  3. Eine Verletzung des Eigentumsrechts des Patentinhabers durch den Erlass einer Anti-Suit Injunction kann in Abhängigkeit von den Umständen des Einzelfalls schon vor der auf ihren Erlass gerichteten Antragstellung drohen.
  4. Die Anordnung einer Sicherheitsleistung im Falle einer ohne die Anhörung des Antragsgegners ergangenen einstweiligen Maßnahme kann gemäß Regel 211.5 S. 2 EPGVO [→ Sicherheitsleistung durch den Antragsteller] ausnahmsweise unterbleiben, wenn es dem Antragsteller in zeitlicher Hinsicht nicht möglich ist, die Sicherheit bis zu der auf einer Messe erfolgenden Zustellung der Anordnung der einstweiligen Maßnahme zu leisten, und andere Zustellungsmöglichkeiten mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden sind.