EPG, UPC_CFI_149/2024: „Argumentationsverbot“
EPG, Lokalkammer München, Anordnung v. 20. Juni 2025 – UPC_CFI_149/2024, ORD_69211/2024
Leitsätze der Entscheidung:
Der Anwendung einer Zuständigkeitsregelung (hier: Art. 33 Abs. 1 (a) EPGÜ → Zuständigkeit der Lokalkammern und Regionalkammern) steht nicht entgegen, dass die Klägerin in der Klageschrift ihre Begründung für die Zuständigkeit der Lokalkammer nicht explizit auf diese Regelung gestützt, sondern lediglich eine andere Vorschrift (hier: Art. 33 Abs. 1 (b) EPGÜ) erwähnt hat. Insofern gilt für die Erwiderung auf den Einspruch nichts anderes als auch für die Replik auf eine Klageerwiderung im
Verletzungsverfahren. Die Klägerin kann sich ergänzend auf die weitere Regelung stützen (Fortführung von Berufungsgericht, Anordnung v. 18.09.2024, UPC_CoA_265/2024, APL_30169/2024 – NST/VW; Anordnung v. 21.11.2024, UPC_CoA_456/2024, APL_44633/2024 – OrthoApnea).
Art. 33 Abs. 1 (b) S. 2 EPGÜ bezieht sich nicht auf Art. 33 Abs. 1 (a) EPGÜ. Weder ermöglicht die Regelung eine Klage gegen mehrere Beklagte, von denen nur einer eine Patentverletzung im Vertragsmitgliedsstaat der angerufenen Kammer begangen hat, noch knüpft sie eine einheitliche Klage gegen mehrere Beklagte, die allesamt Verletzungshandlungen in dem
betroffenen Vertragsmitgliedsstaat begangen haben oder dort ihren Sitz haben, an besondere Voraussetzungen. Art. 33 Abs. 1 (b) S. 2 EPGÜ stellt unter den dort verlangten Voraussetzungen eine Erweiterung der Zuständigkeitsregeln dar auf Klagen gegen Personen, die in dem betroffenen Vertragsmitgliedsstaat weder eine Patentverletzung begangen haben noch einen Sitz haben.
Aus der Entscheidungsbegründung:
Nach der Rechtsprechung des EPG gelten für die Einführung neuer rechtlicher Argumente Einschränkungen. Regel 13 VerfO [→ Erforderliche Angaben in der Klageschrift] verlangt, dass die Klageschrift die Gründe enthält, warum die geltend gemachten Tatsachen eine Verletzung der Patentansprüche darstellen, einschließlich rechtlicher Argumente. Diese Bestimmung ist im Lichte des letzten Satzes von Erwägungsgrund 7 der Verfahrensordnung auszulegen, wonach die Parteien ihren Fall so früh wie möglich im Verfahren darlegen müssen. Allerdings schließt Regel 13 VerfO nicht aus, dass ein Kläger nach Einreichung der Klageschrift neue Argumente vorbringen kann. Ob ein neues Argument zulässig ist, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab, einschließlich der Gründe, warum der Kläger das Argument nicht bereits in der Klageschrift vorgebracht hat, und den verfahrensrechtlichen Möglichkeiten des Beklagten, auf das neue Argument zu reagieren. Bei dieser Beurteilung verfügt das erstinstanzliche Gericht über einen gewissen Ermessensspielraum (Berufungsgericht, Anordnung v. 21.11.2024, UPC_CoA_456/2024, APL_44633/2024 – OrthoApnea; vgl. auch vorangehend LK Brüssel, Anordnung v. 19. Juli 2024, APC_CFI_376/2023, ACT_581538/2023 – OrthoApnea). Insbesondere ist es nicht erforderlich, dass der Kläger alle möglichen Verteidigungslinien vorwegnimmt und alle Argumente, Tatsachen und Beweise in der Klageschrift aufführt und einreicht und dass danach nichts mehr hinzugefügt werden kann. Dies kann insbesondere dann der Fall sein, wenn der Kläger, nachdem er ein Argument in seiner Klageschrift vorgebracht hat, dieses Argument in seiner Replik gemäß Regel 29 (a) oder (b) RoP weiter begründet, um auf eine Einwendung des Beklagten gegen das ursprünglich vorgebrachte Argument in seiner Klageerwiderung zu reagieren (Berufungsgericht, Anordnung v. 18.09.2024, UPC_CoA_265/2024, APL_30169/2024 – NST/VW). Im Übrigen sind die vorstehenden Grundsätze vor dem allgemeinen Grundsatz zu verstehen, dass das Gericht das Recht kennt („iura novit curia“) und die Parteien lediglich den Tatsachenstoff liefern müssen („da mihi facta, do tibi ius“).
Anmerkung:
Der Ansatz des Einheitlichen Patentgerichts (EPG), rechtliche Argumente möglichst früh im Verfahren einzufordern, ist aus Gründen der Effizienz nachvollziehbar, birgt jedoch erhebliche Risiken für die materielle Gerechtigkeit. Zwar erlaubt die Verfahrensordnung im Einzelfall ein nachträgliches Vorbringen, doch bleibt dies dem Ermessen des Gerichts überlassen – was zu Intransparenz, Rechtsunsicherheit und einem formalen Verfahrensverständnis führen kann. Wird ein rechtliches Argument allein wegen „Verspätung“ ausgeschlossen, droht eine Verletzung des rechtlichen Gehörs und des Grundsatzes „iura novit curia“. Damit steht der EPG-Ansatz im Spannungsfeld zwischen Verfahrensökonomie und rechtsstaatlicher Fairness – eine Balance, die durch klarere Kriterien und stärkere gerichtliche Aufklärungspflichten verbessert werden müsste.
Macht das Gericht seine Entscheidung jedoch faktisch davon abhängig, ob und wann eine Partei ein bestimmtes rechtliches Argument einführt, wird die richterliche Rechtsanwendung an formale Prozessregeln gebunden – im Widerspruch zur Pflicht, aus dem festgestellten Sachverhalt die rechtlichen Schlüsse selbstständig zu ziehen. Ein solcher Umgang gefährdet die materielle Gerechtigkeit und läuft dem Zweck eines auf Rechtserkenntnis ausgerichteten Verfahrens zuwider.