Der Bundesgerichtshof hatte in der Entscheidung im Verfahren X ZR 16/09 – Okklusionsvorrichtung wieder einmal Gelegenheit, sich näher mit Fragen der äquivalenten Patentverletzung auseinanderzusetzen. Das hat er in einer Weise getan, die für den Praktiker neue Fragen aufwirft: Kann der Anmelder für eine umfassende Offenbarung verschiedener alternativer Lösungen im Verletzungsprozess dadurch bestraft werden, dass der Schutzbereich unter der Äquivalenzlehre kleiner ist, als wenn er nur eine einzige Ausführungsform offenbart hätte?
Interessant ist die Entscheidung schon deswegen, weil eine äquivalente Verletzung mit der Begründung verneint wurde, dass es an der Gleichwertigkeit (und nicht etwa an den anderen in den Custodiol- und Schneidmesser-Entscheidungen aufgestellten Kriterien der objektiven Gleichwirkung und Auffindbarkeit) fehlte.
Einige der zentralen Aussagen aus der Entscheidung sind:
Im zweiten Leitsatz:
„Offenbart die Beschreibung mehrere Möglichkeiten, wie eine bestimmte technische Wirkung erzielt werden kann, ist jedoch nur eine dieser Möglichkeiten in den Patentanspruch aufgenommen worden, begründet die Benutzung einer der übrigen Möglichkeiten regelmäßig keine Verletzung des Patents mit äquivalenten Mitteln.“
In Rz. 35:
„Trifft der Patentanspruch eine Auswahlentscheidung zwischen verschiedenen Möglichkeiten, eine technische Wirkung zu erzielen, müssen die fachmännischen Überlegungen zu möglichen Abwandlungen gerade auch mit dieser Auswahlentscheidung in Einklang stehen.“
In Rz. 36:
„[Somit führt] die Prüfung der Orientierung am Patentanspruch zum Ausschluss einer Ausführungsform aus dem Schutzbereich des Patents, die zwar offenbart oder für den Fachmann jedenfalls auffindbar sein mag, von der der Leser der Patentschrift aber annehmen muss, dass sie – aus welchen Gründen auch immer – nicht unter Schutz gestellt werden sollte“.
Bevor einige kritische Überlegungen und Fragen folgen, sei vorangestellt, dass der Verfasser die Entscheidung des Senats im Ergebnis absolut nachvollziehbar findet. Ob es dazu der oben erwähnten Aussagen bedurft hätte, ist jedoch fraglich.
Auch vorangestellt sei, dass – wie jedem Patentanwalt aus seiner Praxis geläufig ist – der Fall, in dem die Ansprüche nicht mehr alle ursprünglich offenbarten Ausführungsbeispiele abdecken und dies in der Beschreibung kenntlich zu machen ist, sei es durch Streichung von Ausführungsbeispielen oder durch entsprechende Klarstellung im Beschreibungstext, eher die Regel als die Ausnahme ist.
Dies gibt Anlass zu folgenden kritischen Überlegungen:
1. Warum soll ein Anmelder keinen Schutz nach der Äquivalenzlehre mehr für eine Ausgestaltung erhalten, die er in seiner Anmeldung als technische Lösung offenbart hat, die aber nicht mehr unter den Wortlaut des erteilten Anspruchs fällt – wohingegen ein anderer Anmelder, der taggleich dieselbe Erfindung zum Patent angemeldet, dabei das nicht mehr vom erteilten Anspruch abgedeckte Ausführungsbeispiel aber von Anfang an gar nicht offenbart hat, für eben dieses (von ihm nie offenbarte) Ausführungsbeispiel nach der Äquivalenzlehre noch Schutz erhalten kann?
2. Möglicherweise hatte der Senat bei den Ausführungen unter Rz. 35 und 36 Konstellationen im Kopf, bei denen ein Anmelder einzelne Ausführungsformen aus dem Anspruchsgegenstand entfernen musste, um Neuheit und erfinderische Tätigkeit herzustellen. Das ist aber nur ein Grund, aus dem ein erteilter Anspruch nicht mehr alles abdecken kann, was offenbart ist.
Gerade die formalen Hürden des EPÜ und die Erhöhung dieser Hürden durch die in den letzten Jahren erfolgten Änderungen der Ausführungsordnung können dazu führen, dass ein Erfinder nicht immer Schutz für alle Ausführungsformen erhalten kann, die neu und erfinderisch wären.
Beispiel: Ursprünglich beansprucht ist ein Gerät, bei dem eine „erste Komponente aus einem ersten Metall ist“. Ausführungsformen beschreiben, dass das erste Metall Gold oder Kupfer sein kann. Nachdem das Prüfungsverfahren vor dem EPA schon zwei Jahre läuft, führt die Prüfungsabteilung erstmals neuheitsschädlichen Stand der Technik an, in dem das erste Metall Silber ist und der zur Einschränkung des breiten Anspruchs führen muss. Die beiden Ausführungsformen sind jedoch jeweils neu und erfinderisch. Und doch kann es sein, dass der arme Anmelder nicht beide schützen kann: Die Prüfungsabteilung macht klar, dass sie uneinheitliche Anspruchssätze nach R. 137(3) EPÜ zurückweisen werde. Somit bleibt dem armen Anmelder noch nicht einmal die Möglichkeit, eine neue Frist zur Teilung nach R. 36 (1) b) EPÜ auszulösen. Ein ganz realistisches Szenario, gerade für viele, die die Praxis des EPA unter „raising the bar“ erleben.
Notgedrungen wird sich der Anmelder in diesem Beispiel für eine der ursprünglich offenbarten Ausführungsformen entscheiden und diese zum Gegenstand seines Anspruchs machen müssen. Warum sollte er – nach dem zweiten Leitsatz von X ZR 16/09 – keinen Schutz nach der Äquivalenzlehre mehr für die andere Ausführungsform erhalten können, falls diese für den Fachmann objektiv gleichwertig und – schon wegen der Offenbarung in der Anmeldung – auffindbar ist?
3. Für den Verfasser dieses Beitrags relativ unklar bleibt die oben zitierte Textpassage in Rz. 35 des Urteils. Wenn es um die Frage der äquivalenten Verletzung geht, muss der Anspruch eigentlich immer eine „Auswahlentscheidung“ getroffen haben. Hätte er es nicht, könnte nicht ein Anspruchsmerkmal mit einem anderen Merkmal gleicher technischer Funktion ersetzt worden sein. In welchen Fällen kann man dann aber noch davon ausgehen, dass die „fachmännischen Überlegungen zu möglichen Abwandlungen … gerade auch mit dieser Auswahlentscheidung in Einklang stehen“? Soll künftig differenziert werden zwischen Abwandlungen, die im Einklang mit einem Anspruchsmerkmal stehen, und solchen, die nicht im Einklang mit einem Anspruchsmerkmal stehen? Welche Kriterien könnten für eine solche Unterscheidung entwickelt werden?
Der Verfasser dieses Beitrags sieht der Aufnahme und Kommentierung des Urteils X ZR 16/09 in den Fachkreisen jedenfalls mit Spannung entgegen.