EPG, UPC_CFI_149/2024: „Argumentationsverbot“

EPG, Lokalkammer München, Anordnung v. 20. Juni 2025 – UPC_CFI_149/2024, ORD_69211/2024

Leitsätze der Entscheidung:

Der Anwendung einer Zuständigkeitsregelung (hier: Art. 33 Abs. 1 (a) EPGÜ → Zuständigkeit der Lokalkammern und Regionalkammern) steht nicht entgegen, dass die Klägerin in der Klageschrift ihre Begründung für die Zuständigkeit der Lokalkammer nicht explizit auf diese Regelung gestützt, sondern lediglich eine andere Vorschrift (hier: Art. 33 Abs. 1 (b) EPGÜ) erwähnt hat. Insofern gilt für die Erwiderung auf den Einspruch nichts anderes als auch für die Replik auf eine Klageerwiderung im
Verletzungsverfahren. Die Klägerin kann sich ergänzend auf die weitere Regelung stützen (Fortführung von Berufungsgericht, Anordnung v. 18.09.2024, UPC_CoA_265/2024, APL_30169/2024 – NST/VW; Anordnung v. 21.11.2024, UPC_CoA_456/2024, APL_44633/2024 – OrthoApnea).

Art. 33 Abs. 1 (b) S. 2 EPGÜ bezieht sich nicht auf Art. 33 Abs. 1 (a) EPGÜ. Weder ermöglicht die Regelung eine Klage gegen mehrere Beklagte, von denen nur einer eine Patentverletzung im Vertragsmitgliedsstaat der angerufenen Kammer begangen hat, noch knüpft sie eine einheitliche Klage gegen mehrere Beklagte, die allesamt Verletzungshandlungen in dem
betroffenen Vertragsmitgliedsstaat begangen haben oder dort ihren Sitz haben, an besondere Voraussetzungen. Art. 33 Abs. 1 (b) S. 2 EPGÜ stellt unter den dort verlangten Voraussetzungen eine Erweiterung der Zuständigkeitsregeln dar auf Klagen gegen Personen, die in dem betroffenen Vertragsmitgliedsstaat weder eine Patentverletzung begangen haben noch einen Sitz haben.

Aus der Entscheidungsbegründung:

Nach der Rechtsprechung des EPG gelten für die Einführung neuer rechtlicher Argumente Einschränkungen. Regel 13 VerfO  [→ Erforderliche Angaben in der Klageschrift] verlangt, dass die Klageschrift die Gründe enthält, warum die geltend gemachten Tatsachen eine Verletzung der Patentansprüche darstellen, einschließlich rechtlicher Argumente. Diese Bestimmung ist im Lichte des letzten Satzes von Erwägungsgrund 7 der Verfahrensordnung auszulegen, wonach die Parteien ihren Fall so früh wie möglich im Verfahren darlegen müssen. Allerdings schließt Regel 13 VerfO nicht aus, dass ein Kläger nach Einreichung der Klageschrift neue Argumente vorbringen kann. Ob ein neues Argument zulässig ist, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab, einschließlich der Gründe, warum der Kläger das Argument nicht bereits in der Klageschrift vorgebracht hat, und den verfahrensrechtlichen Möglichkeiten des Beklagten, auf das neue Argument zu reagieren. Bei dieser Beurteilung verfügt das erstinstanzliche Gericht über einen gewissen Ermessensspielraum (Berufungsgericht, Anordnung v. 21.11.2024, UPC_CoA_456/2024, APL_44633/2024 – OrthoApnea; vgl. auch vorangehend LK Brüssel, Anordnung v. 19. Juli 2024, APC_CFI_376/2023, ACT_581538/2023 – OrthoApnea). Insbesondere ist es nicht erforderlich, dass der Kläger alle möglichen Verteidigungslinien vorwegnimmt und alle Argumente, Tatsachen und Beweise in der Klageschrift aufführt und einreicht und dass danach nichts mehr hinzugefügt werden kann. Dies kann insbesondere dann der Fall sein, wenn der Kläger, nachdem er ein Argument in seiner Klageschrift vorgebracht hat, dieses Argument in seiner Replik gemäß Regel 29 (a) oder (b) RoP weiter begründet, um auf eine Einwendung des Beklagten gegen das ursprünglich vorgebrachte Argument in seiner Klageerwiderung zu reagieren (Berufungsgericht, Anordnung v. 18.09.2024, UPC_CoA_265/2024, APL_30169/2024 – NST/VW). Im Übrigen sind die vorstehenden Grundsätze vor dem allgemeinen Grundsatz zu verstehen, dass das Gericht das Recht kennt („iura novit curia“) und die Parteien lediglich den Tatsachenstoff liefern müssen („da mihi facta, do tibi ius“).

Anmerkung:

Der Ansatz des Einheitlichen Patentgerichts (EPG), rechtliche Argumente möglichst früh im Verfahren einzufordern, ist aus Gründen der Effizienz nachvollziehbar, birgt jedoch erhebliche Risiken für die materielle Gerechtigkeit. Zwar erlaubt die Verfahrensordnung im Einzelfall ein nachträgliches Vorbringen, doch bleibt dies dem Ermessen des Gerichts überlassen – was zu Intransparenz, Rechtsunsicherheit und einem formalen Verfahrensverständnis führen kann. Wird ein rechtliches Argument allein wegen „Verspätung“ ausgeschlossen, droht eine Verletzung des rechtlichen Gehörs und des Grundsatzes „iura novit curia“. Damit steht der EPG-Ansatz im Spannungsfeld zwischen Verfahrensökonomie und rechtsstaatlicher Fairness – eine Balance, die durch klarere Kriterien und stärkere gerichtliche Aufklärungspflichten verbessert werden müsste.

Macht das Gericht seine Entscheidung jedoch faktisch davon abhängig, ob und wann eine Partei ein bestimmtes rechtliches Argument einführt, wird die richterliche Rechtsanwendung an formale Prozessregeln gebunden – im Widerspruch zur Pflicht, aus dem festgestellten Sachverhalt die rechtlichen Schlüsse selbstständig zu ziehen. Ein solcher Umgang gefährdet die materielle Gerechtigkeit und läuft dem Zweck eines auf Rechtserkenntnis ausgerichteten Verfahrens zuwider.


G 1/24: Beschreibung und Zeichnungen stets maßgeblich für die Auslegung

G 1/24, Große Beschwerdekammer, Beschluss v. 18.06.2025

Die Große Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts hat am 18. Juni 2025 in der Sache G 1/24 (Vorlage T 0439/22-3.2.01) entschieden. Die Entscheidung wird demnächst im Amtsblatt des EPA veröffentlicht.

Ausgangspunkt war eine Vorlagefrage der Technischen Beschwerdekammer 3.2.01, die klären wollte, nach welchen Grundsätzen Patentansprüche bei der Prüfung von Neuheit und erfinderischer Tätigkeit auszulegen sind [→ Auslegung der Patentansprüche]. In der Spruchpraxis der Beschwerdekammern hatte sich eine Divergenz herausgebildet: Ein Teil der Entscheidungen zog Beschreibung und Zeichnungen nur heran, wenn der Anspruchswortlaut unklar erschien, ein anderer Teil bezog sie stets in die Auslegung ein. Die Kammer erklärte das Vorlageersuchen insoweit für zulässig und wies lediglich eine dritte, weitergehende Frage als nicht entscheidungserheblich zurück.

Die Große Beschwerdekammer entschied, dass für die Interpretation von Ansprüchen bei der Patentierbarkeitsprüfung keine einzelne Vorschrift des EPÜ als alleinige Rechtsgrundlage taugt. Weder Artikel 69 EPÜ [→ Bestimmung des Schutzbereichs] in Verbindung mit dem Protokoll noch Artikel 84 EPÜ seien für sich genommen vollständig. Die Auslegung müsse sich deshalb auf Systematik, Telos und gefestigtes Richterrecht stützen. Gleichwohl seien die Wertungen von Artikel 69 EPÜ analog heranzuziehen, um eine einheitliche Praxis zwischen EPA und späteren Verletzungsgerichten – insbesondere dem Einheitspatentgericht – zu gewährleisten.

Kern der Entscheidung ist die Feststellung, dass Beschreibung und Zeichnungen immer heranzuziehen sind, wenn ein Fachmann den Inhalt eines Anspruchs im Rahmen von Artikel 52 bis 57 EPÜ verstehen muss; eine Beschränkung auf Fälle eindeutiger Unklarheit wird ausdrücklich verworfen. Zugleich betont die Kammer das Vorrangig-sein von Klarheitskorrekturen: Unklarheiten sind primär durch Anspruchsänderungen nach Artikel 84 EPÜ zu beseitigen, nicht durch eine bloße „korrigierende“ Auslegung.

Amtlicher Leitsatz:

Die Patentansprüche sind der Ausgangspunkt und die Grundlage für die Beurteilung der Patentierbarkeit einer Erfindung nach den Artikeln 52 bis 57 EPÜ. Die Beschreibung und die Zeichnungen sind bei der Beurteilung der Patentierbarkeit einer Erfindung nach den Artikeln 52 bis 57 EPÜ stets zur Auslegung der Ansprüche [→ Bestimmung des Schutzbereichs] heranzuziehen – und zwar nicht nur dann, wenn der Fachmann einen Anspruch für sich genommen als unklar oder mehrdeutig empfindet.

Aus der Entscheidungsbegründung:

In ihrer Begründung unterstreicht die Kammer, dass eine voneinander abweichende Praxis zwischen EPA, EPG und nationalen Gerichten „höchst unattraktiv“ wäre. Zudem stellt sie klar, dass schon die Feststellung angeblicher Eindeutigkeit einen Interpretationsakt darstellt. Schließlich hebt sie hervor, dass Definitionen in der Beschreibung regelmäßig verbindlich sind und nur in qualifizierten Ausnahmefällen ignoriert werden dürfen.

EPG, UPC_CoA_402/2024: Entscheidung über einen Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens

EPG, Berufungskammer, Beschl. v. 19. Juni 2025 – UPC_CoA_402/2024

Leitsatz:

Das Berufungsgericht setzt die allgemeinen Grundsätze dar, die bei der Entscheidung über einen Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens aufgrund eines grundlegenden Verfahrensfehlers gemäß Art. 81(1)(b) EPGÜ [→ Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens] i.V.m. Regel 247(c) EPGVO [→ Verletzung von Artikel 76 des Übereinkommens] zu berücksichtigen sind (grundlegender Verfahrensfehler; grundlegende Verletzung von Art. 76 EPGÜ).

Rechtssätze der Entscheidungsgründe (übersetzt)

Die Gesetzgeber haben ausdrücklich bestimmt, dass Entscheidungen des Berufungsgerichts endgültig sind. Eine weitere Berufung gegen diese Entscheidungen ist im EPGÜ oder der EPGVO nicht vorgesehen.

Art. 81(1) EPGÜ [→ Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens] eröffnet die Möglichkeit, nach einer endgültigen Entscheidung die Wiederaufnahme des Verfahrens zu beantragen, wenn – kurz gesagt – diese auf einer Handlung beruht, die als Straftat eingestuft wurde, oder wenn ein grundlegender Verfahrensfehler vorliegt. Diese Umstände dürfen nicht bekannt gewesen sein oder, bei einem grundlegenden Verfahrensfehler, sofern bekannt, während des Verfahrens, das zur Entscheidung geführt hat, oder im Berufungsverfahren bereits gerügt worden sein (vgl. R. 248 EPGVO), es sei denn, eine solche Rüge konnte damals nicht erhoben werden.

Der Wortlaut des Art. 81(1) EPGÜ macht deutlich, dass eine Wiederaufnahme nur ausnahmsweise gewährt werden darf, wenn die Entscheidung an einem dieser schwerwiegenden Mängel leidet. Die Wiederaufnahme ist somit kein reguläres Rechtsmittelverfahren, sondern ein außergewöhnliches Rechtsmittel. Nur grundlegende Verfahrensfehler können eine Grundlage für die Wiederaufnahme bilden.

Es ist daher nicht beabsichtigt, dass bloße Fehler jeglicher Art einen Grund für die Wiederaufnahme eines Verfahrens darstellen können. Um als Grund für eine Wiederaufnahme zu qualifizieren, muss ein Verfahrensfehler so fundamental sein, dass er für das Rechtssystem untragbar ist und das Prinzip überwiegt, dass Verfahren, die zu einer endgültigen Entscheidung geführt haben, im Interesse der Rechtssicherheit nicht wiedereröffnet werden sollen.

Ein Mangel kann außerdem nur dann als grundlegend angesehen werden, wenn festgestellt werden kann, dass ohne diesen Mangel nicht dieselbe Entscheidung getroffen worden wäre (vgl. Urteil vom 3. Juli 2014, Kamino International Logistics und Datema Hellmann Worldwide Logistics, C-129/13 und C-130/13, EU:C:2014:2041, Rn. 79 und die dort zitierte Rechtsprechung). Dies hat der Antragsteller darzulegen.


Es ist Sache der Parteien, die von ihnen für erheblich erachteten Argumente vorzubringen. Die Bewertung der von den Parteien vorgetragenen Argumente und die daraus gezogenen Schlussfolgerungen können für sich genommen nicht Gegenstand einer Überprüfung im Rahmen eines Wiederaufnahmeverfahrens sein. Wie sich aus dem Vorstehenden ergibt, gilt dies selbst dann, wenn eine solche Bewertung als fehlerhaft angesehen werden könnte, solange der Fehler keinen grundlegenden Mangel im Sinne des Art. 81(1) EPGÜ darstellt.

Dasselbe gilt für Beweismittel. Es ist Sache der Parteien, sämtliche zur Untermauerung ihrer Argumente erforderlichen Beweismittel vorzulegen. Das Gericht bewertet die von den Parteien vorgelegten Beweise frei und unabhängig (Art. 76(3) EPGÜ). Das Gericht kann selbst beurteilen, welches Gewicht Gutachten von Sachverständigen und Zeugenaussagen haben, wobei es auch seine Einschätzung der Neutralität eines Sachverständigen oder Zeugen berücksichtigen darf. Die Art und Weise, wie Fragen gestellt oder Antworten formuliert werden, kann bei dieser Beurteilung einen Anhaltspunkt bilden.

Es ist Aufgabe des Gerichts, die Relevanz für den Streitgegenstand und die Notwendigkeit der Vernehmung der benannten und beantragten Zeugen zu beurteilen. Ebenso besteht grundsätzlich keine Verpflichtung für das Gericht, einen der als Beweismittel vorgelegten Sachverständigen anzuhören. Dies gilt umso mehr in Verfahren über vorläufige Maßnahmen. Gemäß letzter Satz von R. 210.2 EPGVO findet Teil 2 der Beweisregeln auf diese Verfahren nur insoweit Anwendung, wie das Gericht dies bestimmt.

Wird eine Tatsachenbehauptung von keiner Partei ausdrücklich bestritten, gilt sie nach R. 171.2 EPGVO zwischen den Parteien als wahr. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die für diese Tatsache geltend gemachte Rechtsfolge automatisch daraus folgt. Es obliegt immer noch dem Gericht zu entscheiden, ob die vorgetragenen Tatsachen die geltend gemachte Rechtsfolge rechtfertigen (Berufungsgericht, Kodak v Fujifilm, 17. April 2025, UPC_CoA_312/2025, Rn. 12).

Die Auslegung eines Patentanspruchs ist eine Rechtsfrage (Berufungsgericht, Insulet v EoFlow, 30. April 2025, UPC_CoA_768/2024, Rn. 37). Bei der Auslegung eines Anspruchs hat das Berufungsgericht festzustellen, wie die Fachkraft die im Patentanspruch verwendeten Begriffe im Kontext des Gesamtpatentanspruchs und unter Berücksichtigung der Beschreibung und Zeichnungen versteht. Hierbei werden die vorgebrachten Argumente und Tatsachen, einschließlich etwaiger Sachverständigengutachten, frei und unabhängig gewürdigt, jedoch ohne daran gebunden zu sein.

Insofern gibt es keinen Grund, weshalb die Entscheidung der Technischen Beschwerdekammern in Einspruchsverfahren bezüglich des Streitpatents, sofern sie von einer der Parteien vorgebracht wird, nicht als Anhaltspunkt für die Ansichten des Fachmanns zum Anmeldetag herangezogen werden könnte.


Das Gericht ist frei, in Rechtsfragen eigene Feststellungen zu treffen. Die Parteien haben die relevanten Rechtsnormen, einschließlich hierzu entwickelter Rechtsprechung, zu kennen und deren eventuelle Anwendung im konkreten Fall zu antizipieren.

Zu der Rechtsprechung, deren Kenntnis von den Parteien verlangt werden kann, gehören die Entscheidungspraxis der Technischen Beschwerdekammern (TBA) und der Großen Beschwerdekammer (EBA) des Europäischen Patentamts (EPA), sofern sie für die vorliegende Frage und die vorgebrachten Argumente relevant ist. Zwar ist das Berufungsgericht an diese Rechtsprechung nicht gebunden, es besteht jedoch Anlass, insbesondere TBA- und noch mehr EBA-Entscheidungen zu berücksichtigen, da sie die gleichen materiell-rechtlichen Vorschriften des Europäischen Patentübereinkommens (EPÜ) anwenden wie das Gericht. Einen ähnlichen Ansatz verfolgen auch die nationalen Gerichte der Vertragsmitgliedstaaten und anderer EPÜ-Vertragsstaaten wie das Vereinigte Königreich, deren nationales Recht im Wesentlichen auf den materiell-rechtlichen Vorschriften des EPÜ beruht. Parteivertreter müssen daher mit der relevanten von TBA und EBA entwickelten Rechtsprechung vertraut sein.


Relevante Rechtsnormen: Allgemeiner Rechtsgrundsatz im Kontext EPÜ
„Eine Gerichtsentscheidung muss die Gründe und die Tatsachen sowie Argumente enthalten, auf die das Gericht seine Entscheidung stützt (R. 350 EPGVO). Das Gericht muss alle von den Parteien vorgebrachten Argumente berücksichtigen, ist aber nicht verpflichtet, in seinem Beschluss oder Urteil explizit und ausführlich auf jedes einzelne Argument einzugehen. Das Gericht kann Argumente, die irrelevant oder offensichtlich fehlerhaft sind, außer Acht lassen oder ein Argument implizit zurückweisen, etwa wenn dessen Ablehnung aus weiteren Erwägungen des Gerichts hervorgeht. Dies gilt erst recht für in Anlagen, wie etwa Gutachten, vorgebrachte Argumente. Im Verfahren über vorläufige Maßnahmen ist der anzuwendende Prüfungsmaßstab insoweit niedriger.

Das rechtliche Gehör spiegelt sich in Art. 76(2) EPGÜ wider, der vorsieht, dass Entscheidungen in der Sache nur auf Gründe, Tatsachen und Beweise gestützt werden dürfen, die von den Parteien vorgebracht wurden oder durch gerichtlichen Beschluss in das Verfahren eingeführt wurden, und zu denen die Parteien Gelegenheit zur Stellungnahme hatten. Es ist nicht erforderlich, dass eine Partei immer Gelegenheit haben muss, sich schriftlich zu äußern.

Sofern die Entscheidung nicht objektiv unvorhersehbar war und keine Überraschung für den gut informierten Vertreter enthielte, beispielsweise, weil sie mit der etablierten Rechtsprechung unvereinbar oder von dieser grundlegend abweicht oder sich auf zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung noch nicht bekannte Rechtsprechung stützt, ist das Gericht nicht verpflichtet, den Parteien im Vorfeld seine (vorläufige) Auffassung zu einer Streitfrage oder deren Grundlage mitzuteilen, weder in einer Zwischenkonferenz noch in einer vor der mündlichen Verhandlung abgegebenen vorläufigen Einschätzung. Weder das EPGÜ noch die EPGVO sehen ein solches System vor. Das Gericht kann eine vorläufige Einführung zur Klage (R. 112.4 EPGVO) liefern, die eine vorläufige Einschätzung enthalten kann, aber nicht enthalten muss.

Auch wenn Art. 76(2) EPGÜ sich auf Entscheidungen in der Sache bezieht, gilt das rechtliche Gehör grundsätzlich auch im Verfahren über vorläufige Maßnahmen, wobei dort ein weniger strenger Maßstab anzulegen ist oder – abhängig von den Umständen – das Prinzip gar nicht gilt (zum Beispiel in ex-parte-Verfahren, in denen aber, um dem Beklagten soweit wie möglich Gehör zu verschaffen, eine Schutzschrift, sofern eingereicht, nebst etwaiger Korrespondenz zwischen den Parteien und weiteren maßgeblichen Tatsachen, die der Antragsteller gemäß R. 205.3(b) und .4 EPGVO vorlegen muss, zu berücksichtigen ist (R. 207.8 EPGVO)).

BGH, I ZR 143/24 – „Nie wieder keine Ahnung“

BGH, Urteil vom 7. Mai 2025 – I ZR 143/24 – „Nie wieder keine Ahnung“

In dem Streit um den Titel „Nie wieder keine Ahnung“, den sowohl die Klägerin für eine Fernsehsendereihe als auch die Beklagte für ein Buch verwendet haben, hat der Bundesgerichtshof festgestellt, dass keine unmittelbare oder mittelbare Verwechslungsgefahr gegeben ist. Der Werktitel der Klägerin besitzt nur durchschnittliche Kennzeichnungskraft, und aufgrund der unterschiedlichen Werkkategorien – Fernsehsendereihe einerseits und Buch andererseits – liegt keine unmittelbare Verwechslungsgefahr vor. Auch eine erweiterte Verwechslungsgefahr im weiteren Sinn wurde abgelehnt, da die Bekanntheit des Klägers nicht ausreichend nachgewiesen werden konnte. Der BGH bestätigte damit das Urteil des Oberlandesgerichts Stuttgart und wies die Revision der Klägerin zurück.

Gerichtliche Leitsätze:

a) Werktitel sind in der Regel nur gegen eine unmittelbare Verwechslungsgefahr im engeren Sinn geschützt. Eine solche Gefahr einer unmittelbaren Verwechslung liegt dann vor, wenn aufgrund der Benutzung des angegriffenen Titels die Gefahr besteht, dass der Verkehr den einen Titel für den anderen hält und dadurch über die Identität der bezeichneten Werke irrt. Betreffen die zu vergleichenden Titel unterschiedliche Werke, so scheidet die Annahme einer unmittelbaren Verwechslungsgefahr mangels Werknähe regelmäßig aus, wenn der angesprochene Verkehr das eine Werk aufgrund der Unterschiede nicht für das andere hält (vgl. BGH, Urteil vom 22. März 2012 – I ZR 102/10, GRUR 2012, 1265 [juris Rn. 23] = WRP 2012, 1526 – Stimmt’s?; Abgrenzung zu BGH, Urteil vom 23. Januar 2003 – I ZR 171/00, GRUR 2003, 440 [juris Rn. 27] = WRP 2003, 644 – Winnetous Rückkehr).

b) Ausnahmsweise kommt bei einer Gefahr der Annahme von wirtschaftlichen oder organisatorischen Verbindungen durch den angesprochenen Verkehr ein weitergehender Schutz des Werktitels gegen eine Täuschung über die betriebliche Herkunft unter dem Gesichtspunkt einer unmittelbaren Verwechslungsgefahr im weiteren Sinn in Betracht [→ Erweiterter Werktitelschutz]. Voraussetzung für diesen erweiterten Schutz gegen Verwechslungsgefahr ist, dass der Verkehr mit einem Werktitel gleichzeitig auch die Vorstellung einer bestimmten betrieblichen Herkunft verbindet (vgl. BGH, Urteil vom 19. November 1992 – I ZR 254/90, BGHZ 120, 228 [juris Rn. 24] – Guldenburg; Urteil vom 22. September 1999 – I ZR 50/97, GRUR 2000, 504 [juris Rn. 30] = WRP 2000, 533 – FACTS). Bei der Beurteilung der dafür erforderlichen hinreichenden Bekanntheit des Titels sind die Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen.

c) Neben der hinreichenden Bekanntheit [→ Bekanntheit eines Werktitels] ist für die Annahme einer unmittelbaren Verwechslungsgefahr im weiteren Sinn regelmäßig ein gewisser sachlicher Zusammenhang zwischen den gekennzeichneten Produkten und dem unter dem in Frage stehenden Titel veröffentlichten Werk erforderlich (vgl. BGH, Urteil vom 12. November 1998 – I ZR 84/96, GRUR 1999, 581 [juris Rn. 25] = WRP 1999, 519 – Max).

d) Bei dem Erfordernis einer hinreichenden Bekanntheit einerseits und eines gewissen sachlichen Zusammenhangs zwischen den gekennzeichneten Produkten und dem unter dem in Frage stehenden Titel veröffentlichten Werk andererseits handelt es sich um kumulative Voraussetzungen für eine unmittelbare Verwechslungsgefahr im weiteren Sinn, die grundsätzlich unabhängig voneinander zu beurteilen sind (vgl. BGH, GRUR 1999, 581 [juris Rn. 23 und 24 bis 29] – Max).

EPG, UPC_CoA_156/2025: Zeitliche Zuständigkeit des EPG

EPG, Berufungskammer, Beschl. v. 02. Juni 2025 – UPC_CoA_156/2025

Das Berufungsgericht des Einheitspatentgerichts hatte über die Berufung einer Unternehmensgruppe gegen einen Beschluss der Lokalkammer München zu entscheiden. In dem angefochtenen Beschluss war eine vorläufige Einrede der mangelnden Zuständigkeit des Gerichts in einem Patentverletzungsverfahren zurückgewiesen worden. Die Berufung stützte sich auf die Auffassung, das Einheitliche Patentgericht (EPG) sei nicht zuständig für Verletzungshandlungen, die vor dem Inkrafttreten des Übereinkommens über ein Einheitliches Patentgericht (EPGÜ) am 1. Juni 2023 oder während eines wirksam erklärten Opt-outs stattgefunden hätten.

Die Klage war von einem Unternehmen erhoben worden, das sich auf ein europäisches Patent berief, für das ein zuvor erklärter Opt-out zurückgezogen worden war. Das Berufungsgericht bestätigte die Zuständigkeit des EPG und stellte klar, dass Artikel 32 Absatz 1 EPGÜ [→ Ausschließliche Zuständigkeit des Gerichts für Patentklagen] keine zeitliche Beschränkung vorsieht. Die Einrichtung des Gerichts diene dem Ziel, einen einheitlichen Rechtsrahmen für Patente in Europa zu schaffen. Auch für Handlungen vor dem 1. Juni 2023 bestehe daher die Zuständigkeit des EPG, sofern das betreffende Patent nach Rücknahme eines Opt-outs wieder in den Anwendungsbereich des EPGÜ fällt.

Eine Vorlage an den Europäischen Gerichtshof hielt das Berufungsgericht nicht für erforderlich. Die Entscheidung über die Kosten wurde dem erstinstanzlichen Gericht vorbehalten. Die Berufung wurde insgesamt abgewiesen.

Die Entscheidung enthält Leitsätze (übersetzt):

  • Art. 32(1) EPGÜ [→ Ausschließliche Zuständigkeit des Gerichts für Patentklagen], als Bestimmung eines zwischenstaatlich abgeschlossenen internationalen Vertrages, ist gemäß den Prinzipien des Völkergewohnheitsrechts, die Teil der EU-Rechtsordnung sind, auszulegen.
  • Das Fehlen einer zeitlichen Beschränkung der Zuständigkeitsregeln gemäß Art. 32(1) EPGÜ spiegelt den Zweck und das Ziel des Abkommens wider, ein gemeinsames Gericht für die Vertragsmitgliedstaaten zu schaffen, das in deren Rechtssystem integriert ist und dem Gericht die (ausschließliche) Zuständigkeit für die in Art. 32 (1) EPGÜ genannten Klagen und Widerklagen zu übertragen, um die Schwierigkeiten eines fragmentierten Patentmarktes in Europa und die Unterschiede zwischen den nationalen Gerichtssystemen zu vermeiden.
  • In Ermangelung gegenteiliger Bestimmungen legen diese Ziele und Zwecke des EPGÜ keinerlei zeitliche Begrenzung des Gerichts nahe oder implizieren solche.
  • Art. 3 EPGÜ [→ Geltungsbereich] regelt nicht den zeitlichen Anwendungsbereich des Abkommens in Bezug auf Handlungen, die die darin aufgeführten Rechte verletzen. Er lässt daher offen, ob Handlungen, die vor dem Inkrafttreten erfolgt sind, in den Anwendungsbereich des Abkommens fallen.
  • Während der Übergangszeit gemäß Art. 83 EPGÜ [→ Übergangsregelung], und sofern das Patent nicht gemäß Art. 83(3) EPGÜ [→ Opt-out] aus der ausschließlichen Zuständigkeit des Gerichts ausgeschlossen wurde, besteht die (ausschließliche) Zuständigkeit des EPGÜ parallel zu einer gleichzeitigen Zuständigkeit der nationalen Gerichte, bei denen eine Klage wegen Patentverletzung weiterhin anhängig gemacht werden kann. Obwohl sie während der Übergangszeit eine gleichzeitige Zuständigkeit vorsieht, bei der der Patentinhaber die Möglichkeit hat, entweder vor dem EPGÜ oder vor einem nationalen Gericht Klage zu erheben, beschränkt sich diese Option auf die Wahl des Gerichtsstandes und führt nicht zu einer teilweisen oder eingeschränkten Zuständigkeit des gewählten Gerichts, weder in Bezug auf den Gegenstand (die Patentverletzung) der Klage noch auf den Zeitraum, für den das gewählte Gericht zuständig ist.
  • Die Bestimmung der Zuständigkeit des Gerichts ab dem Zeitpunkt der Einreichung der Klage, einschließlich für Handlungen der Verletzung, die vor dem Inkrafttreten des Abkommens stattgefunden haben, widerspricht nicht dem Grundsatz der Nicht-Rückwirkung von Verträgen gemäß den Prinzipien des Völkergewohnheitsrechts und Art. 28 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge, das in Wien am 23. Mai 1969 genehmigt wurde („WÜRV“).
  • Im Falle eines wirksamen Widerrufs von einem effektiven Opt-out ist das EPGÜ zuständig, über die angeblichen Verletzungshandlungen zu entscheiden, die im Zeitraum zwischen dem Datum des Opt-out und dem des Widerrufs erfolgt sind.

EPG, UPC_CFI_59/2025: Keine Abmahnung vor einstweiliger Maßnahme erforderlich bei ASI/AEI-Bedrohung

EPG, Lokalkammer München, Beschl. v. 19. Mai 2025 – UPC_CFI_59/2025

Die Lokalkammer München des Einheitlichen Patentgerichts befasste sich mit einem Antrag auf einstweilige Maßnahmen im Zusammenhang mit zwei europäischen Patenten. Das Verfahren wurde gegenstandslos, nachdem die Antragsgegnerin eine strafbewehrte Unterlassungs- und Verpflichtungserklärung abgegeben hatte. In diesem Fall entschied das Gericht, dass der Antrag auf Erlass einstweiliger Maßnahmen zurückgewiesen wird, die erlassene Anordnung vom 28. Januar 2025 damit wirkungslos ist und die Kosten des Verfahrens der Antragsgegnerin aufzuerlegen sind.

Es wurde festgestellt, dass in Fällen, in denen eine Anti-Suit Injunction (ASI) oder Anti-Enforcement Injunction (AEI) droht, eine Abmahnung nicht erforderlich ist, da davon ausgegangen werden kann, dass die Antragsgegnerin nicht darauf reagieren wird. Die Kostenentscheidung beruht auf der Tatsache, dass die Antragsgegnerin durch die Unterlassungserklärung sich in die Lage der unterlegenen Partei begab und keine Billigkeitsgründe eine andere Kostenverteilung rechtfertigten.

Das Gericht stellte klar, dass eine ex-parte Entscheidung in dringlichen Fällen gerechtfertigt ist, wenn die Gefahr besteht, dass das Recht des Antragstellers durch zuvor erlassene Entscheidungen anderweitiger Gerichte vereitelt werden könnte. Der Antrag auf Erlass einstweiliger Maßnahmen war somit nicht offensichtlich unbegründet oder unzulässig, woher die Kostenregelung zugunsten der Antragstellerin resultiert.

Gerichtliche Leitsätze:

Kommt es für die Kostentragungspflicht im Rahmen einer Entscheidung nach Regel 360 VerfO [→ Erledigung der Hauptsache] darauf an, ob die Beklagte Veranlassung zur Klageerhebung gegeben hat, ist auf die objektive Sicht einer Person in der Position der Klägerin im Zeitpunkt der Klageeinreichung abzustellen. Es ist zu fragen, ob die Klägerin zu diesem Zeitpunkt davon ausgehen durfte, nicht ohne gerichtliche Hilfe zu ihrem Recht zu kommen.

Eine Abmahnung ist nicht Voraussetzung für die Zulässigkeit oder Begründetheit eines Antrags auf Erlass einstweiliger Maßnahmen. Ihr Fehlen lässt nicht ohne weiteres die Dringlichkeit des Begehrens entfallen. Ihr Fehlen kann aber dazu führen, dass der Antragsteller die Kosten zu tragen hat, wenn der Antragsgegner unmittelbar zu Beginn des Verfahrens eine Unterlassungs- und Verpflichtungserklärung abgibt (Fortführung von CoA, Anordnung vom 24.10.2024, CoA_2-2024, APL_83-2024 – Edwards/Meril).

Auch ohne vorherige Abmahnung und trotz unmittelbar abgegebener Unterlassungs- und Verpflichtungserklärung nach Einleitung eines Verfahrens auf Erlass einstweiliger Maßnahmen sind dem Antragsgegner die Kosten aufzuerlegen, wenn eine vorherige Abmahnung entbehrlich war, weil sie von vornherein keinen Erfolg versprach oder infolge der Abmahnung die Gefahr bestanden hätte, dass das geltend gemachte Recht vor einer gerichtlichen Entscheidung endgültig vereitelt worden wäre.

Hat der Antragsgegner bereits ein gerichtliches Verfahren auf Erlass einer Anti-Suit Injunction oder Anti-Enforcement Injunction eingeleitet, ist eine Abmahnung durch den Antragsteller vor einem Antrag auf Erlass einer Anti-Anti-Suit Injunction oder Anti-Anti-Enforcement Injunction regelmäßig entbehrlich, weil davon auszugehen ist, dass ihr der Antragsgegner nicht nachkommen wird, sofern keine konkreten Anhaltspunkte für ein anderes Verhalten sprechen.

EPG – UPC_CoA_845/2024: Auskunftsverpflichtung

EPG, Berufungskammer, Beschl. v. 30. Mai 2025 – UPC_CoA_845/2024

Gerichtliche Leitsätze:

1. Der Antrag nach Art. 67 Abs. 1 EPGÜ [→ Anordnung der Auskunftserteilung durch den Verletzer], die Erteilung einer Auskunft anzuordnen [→ Auskunftsverpflichtung], muss in der Regel die (ab der Mitteilung nach R. 118.8 Satz 1 EPGVO oder im Verfahren betreffend die Anordnung einstweiliger Maßnahmen ab der Zustellung einer solchen Anordnung laufende) Frist zur Auskunftserteilung enthalten. Die Frist ist damit bereits in der Entscheidung oder in der endgültigen Anordnung zu setzen. Erfolgt keine Fristsetzung in der endgültigen Anordnung oder Entscheidung, ist es Sache des Klägers, mit der Mitteilung der Vollstreckungsabsicht nach R. 118.8 EPGVO dem Beklagten auch eine Frist für die Auskunftserteilung zu setzen.

2. Da das Zwangsgeld nicht lediglich Beugefunktion sondern auch Strafcharakter hat, ist eine Verhängung des Zwangsgeldes auch dann gerechtfertigt, wenn der Beklagte inzwischen, aber verspätet, seiner Verpflichtung aus der Anordnung der Auskunftserteilung nachgekommen ist.

3. Die Darlegungs- und Beweislast für die Behauptung, die Erfüllung der Verpflichtung aus der Anordnung der Auskunftserteilung sei erfüllt, obliegt dem Beklagten.

4. Nach Art. 67 Abs. 1 b) EPGÜ [→ Anordnung der Auskunftserteilung durch den Verletzer] sind auch Angaben über Preise, die vom Verletzer für die angegriffenen Ausführungsformen bezahlt wurden (Herstellerpreise), geschuldet.

5. Art. 67 Abs. 1 EPGÜ [→ Anordnung der Auskunftserteilung durch den Verletzer] lässt offen, ob die Auskunft in Schriftform oder in elektronischer Form erteilt werden muss. Ergibt sich aus der Anordnung der Auskunftserteilung nicht, in welcher Form die Auskunft zu erteilen ist, steht es dem Beklagten grundsätzlich frei, die Auskunft wahlweise in Papierform oder elektronisch zu erteilen.

EPG, UPC_CFI_230/2024: mehrere „realistische Ausgangspunkte“ für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit

EPG, Zentralkammer Paris, Beschl. v. 21. Mai 2025 – UPC_CFI_230/2024

In der Entscheidung der Zentralkammer Paris geht es um ein Patent für ein Verfahren und ein System zur Erkennung von Ballkontakten im Sport, insbesondere zur Unterstützung von Schiedsrichtern bei der Abseitsentscheidung im Fußball. Die Zentralkammer erklärte das Patent für nichtig, weil es gegenüber dem Stand der Technik nicht neu und nicht erfinderisch sei.

Gerichtliche Leitsätze:

Ein weit gefasster, allgemeiner Begriff, der in einem Hauptanspruch verwendet wird, ist nicht auf ein Verständnis zu beschränken, das sich aus den spezifischeren oder engeren Merkmalen ergibt, die in einem abhängigen Anspruch oder in der Beschreibung offenbart werden. Stattdessen zeigen der abhängige Anspruch und/oder die Beschreibung lediglich mögliche Ausführungsformen der patentierten Erfindung, die zusätzliche Vorteile bieten können.

Ausführungsformen dienen im Allgemeinen dazu, Optionen für die Verwirklichung der Erfindung zu beschreiben, und erlauben daher keine einschränkende Auslegung eines allgemeineren Patentanspruchs. In der Patentbeschreibung erwähnte Ausführungsformen erlauben nur den Schluss, dass sie unter den Anspruch fallen; sie schränken den Schutzbereich des Patentanspruchs jedoch nicht ein.

Aus der Entscheidungsbegründung:

Diese Entscheidung UPC_CFI_230/2024 baut in Punkt 8.5 auf der in der früheren Entscheidung UPC_CFI_311/2023 etablierten Möglichkeit, mehrere realistische Ausgangspunkte bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit zu berücksichtigen, auf, indem sie explizit feststellt, dass es nicht notwendig ist, den „vielversprechendsten“ Ausgangspunkt zu identifizieren:

„Um zu beurteilen, ob eine beanspruchte Erfindung für einen Fachmann naheliegend war oder nicht, ist es zunächst notwendig, einen Ausgangspunkt im Stand der Technik zu bestimmen.“

„Es muss eine Begründung dafür geben, warum der Fachmann einen bestimmten Teil des Standes der Technik als realistischen Ausgangspunkt betrachten würde.“

„Ein Ausgangspunkt ist realistisch, wenn seine Lehre für einen Fachmann von Interesse gewesen wäre, der zum Prioritätszeitpunkt des Streitpatents ein ähnliches Produkt oder Verfahren wie das im Stand der Technik offenbarte entwickeln wollte, das somit ein ähnliches zugrunde liegendes Problem wie die beanspruchte Erfindung aufweist (vgl. Beschluss vom 26. Februar 2024 in UPC_CoA_335/2023, NanoString/10x Genomics, S. 34)“

„Es kann mehrere realistische Ausgangspunkte geben.“

Es ist nicht notwendig, einen „vielversprechendsten“ Ausgangspunkt [-> „nächstliegender Stand der Technik“] zu identifizieren.“

Anmerkung:

Die Zentralkammer Paris des Einheitlichen Patentgerichts nimmt mit Punkt 8.5 der Entscheidung UPC_CFI_230/2024 eine vom EPA abweichende Haltung zur Bestimmung des Ausgangspunkts für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit ein. Während das Europäische Patentamt (EPA) in seinen Richtlinien für die Prüfung (Abschnitt G-VII, 5.1) im Rahmen des „Aufgabe-Lösungs-Ansatzes“ fordert, den „erfolgversprechendsten“ Ausgangspunkt („nächstliegender Stand der Technik“) zu identifizieren, stellt die Zentralkammer Paris klar, dass es mehrere realistische Ausgangspunkte geben kann – und dass es nicht erforderlich ist, den „vielversprechendsten“ auszuwählen.

Diese Abweichung verweist auf einen weniger schematischen Zugang zur Prüfung der Erfindungshöhe. Dabei steht nicht die Suche nach einem einzigen idealen Ausgangspunkt im Vordergrund, sondern die Nachvollziehbarkeit, warum ein Fachmann überhaupt einen bestimmten Stand der Technik zur Lösung des technischen Problems herangezogen hätte.

Diese Herangehensweise der Zentralkammer Paris steht im Einklang mit der ständigen deutschen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Auswahl eines geeigneten Ausgangspunkts für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit.

Der BGH betont wiederholt, dass es nicht auf den „nächstkommenden“ oder „nächstliegenden“ Stand der Technik ankommt. Vielmehr ist entscheidend, ob sich dem Fachmann ein bestimmter Stand der Technik aus seiner Sicht als sinnvoller Ausgangspunkt anbot, um eine bessere oder alternative Lösung für ein technisches Problem zu finden.

So heißt es u. a. in BGH, GRUR 2009, 382 – Olanzapin:

„Die Einordnung eines bestimmten Ausgangspunkts als – aus Ex-post-Sicht – nächstkommender Stand der Technik ist weder ausreichend noch erforderlich.“

Und weiter in BGH, GRUR 2017, 498 – Gestricktes Schuhoberteil:

„Die Wahl des Ausgangspunkts bedarf einer besonderen Rechtfertigung, die in der Regel in dem Bemühen des Fachmanns liegt, für einen bestimmten Zweck eine bessere oder andere Lösung zu finden, als sie der Stand der Technik zur Verfügung stellt.“

Auch das Urteil BGH, GRUR 2009, 1039 – Fischbissanzeiger stellt klar:

„Bei der Beurteilung des Naheliegens […] kann nicht stets der ‚nächstkommende‘ Stand der Technik als alleiniger Ausgangspunkt zugrunde gelegt werden. Die Wahl eines Ausgangspunkts (oder auch mehrerer Ausgangspunkte) bedarf vielmehr einer besonderen Rechtfertigung, die in der Regel aus dem Bemühen des Fachmanns abzuleiten ist, für einen bestimmten Zweck eine bessere – oder auch nur eine andere – Lösung zu finden, als sie der Stand der Technik zur Verfügung stellt (vgl. BGHZ 179, 168 Tz. 51 – Olanzapin). Für ein ausschließliches Abstellen auf einen „nächstkommenden“ Stand der Technik bietet auch das Übereinkommen über die Erteilung europäischer Patente (Europäisches Patentübereinkommen) vom 5. Oktober 1973 (BGBl. 1976 II 649) keine Grundlage.“

Innerhalb des EPA existieren unterschiedliche Sichtweisen bezüglich der Herangehensweise bei der Bestimmung des Ausgangspunktes für die Bewertung der erfinderischen Tätigkeit. So gibt es bei den Beschwerdekammern Rechtsprechung, die sowohl den Ansatz der Prüfungsrichtlinien bestätigt als auch solche, die eher in Richtung der Herangehensweise des EPG bzw. des BGH geht.

Viele ältere Entscheidungen der Beschwerdekammern folgen dem etablierten Aufgabe-Lösungs-Ansatz strikt und betonen die objektive Ermittlung des „nächstliegenden Stands der Technik“ anhand fester Kriterien (ähnlicher Zweck, ähnliche Wirkung, geringste strukturelle Änderungen). Beispielsweise legt die Entscheidung T 24/81 (ABl. 1983, 133) den Grundstein für diesen Ansatz, indem sie die Bedeutung des „gleichen Zwecks“ oder „gleichen Problems“ und des „ähnlichen Gebiets der Technik“ hervorhebt. In der Rechtsprechung wurde der „nächstliegende Stand der Technik“ oft als das „erfolgversprechendste Sprungbrett“ zur Erfindung bezeichnet (siehe z.B. T 254/86). Diese Sichtweise impliziert, dass es den einen besten Ausgangspunkt gibt, von dem aus der Fachmann die Erfindung am ehesten hätte entwickeln können. In der Entscheidung T 1742/12 wurde diese Sichtweise noch verstärkt, indem festgestellt wurde, dass, wenn ein Stand der Technik als „nächstliegender“ oder „erfolgversprechendstes Sprungbrett“ identifiziert werden kann und gezeigt wird, dass die Erfindung ausgehend von diesem Stand der Technik nicht naheliegend ist, auf eine Beurteilung ausgehend von anderem Stand der Technik verzichtet werden kann.

Allerdings gibt es auch Entscheidungen der Beschwerdekammern, die diese Sichtweise relativieren. So argumentierte eine Kammer in T 64/16, dass es zwar sinnvoll sei, die Untersuchung auf „erfolgversprechende“ Dokumente zu beschränken, es aber nicht erforderlich sei, das „erfolgversprechendste“ Sprungbrett auszuwählen und andere Dokumente auszuschließen. Diese Spannung in der Rechtsprechung zeigt, dass es unterschiedliche Auffassungen darüber gibt, wie strikt der Aufgabe-Lösungs-Ansatz anzuwenden ist und inwieweit andere Dokumente berücksichtigt werden können, selbst wenn sie nicht als der „nächstliegende Stand der Technik“ gelten. Diese Tendenz zu einer flexibleren und realitätsbezogeneren Herangehensweise zeigt sich auch in Entscheidungen, die eine Abkehr vom „Dogma des nächstliegenden Stands der Technik“ erkennen lassen (siehe z.B. T 1148/15, die feststellt, dass sich die Annahme, wonach der übrige Stand der Technik weniger relevant sei, als falsch erweisen kann, und T 405/14, die anerkennt, dass der Begriff „nächstliegender Stand der Technik“ unterschiedliche Bedeutungen haben kann und es nicht unbedingt den einen nächstliegenden Stand der Technik geben muss). In einigen Entscheidungen, wie beispielsweise in T 870/96, wird den „gegebenen Umständen“ der Erfindung, wie der Bezeichnung des Gegenstands, der Formulierung der ursprünglichen Aufgabe, der beabsichtigten Verwendung und der zu erzielenden Wirkungen, generell mehr Gewicht beigemessen als einer Höchstzahl identischer technischer Merkmale, was auf eine stärkere Berücksichtigung des Gesamtzusammenhangs hindeutet.

Die aktuelle Fassung der EPA-Prüfungsrichtlinien (Abschnitt G-VII, 5.1) ist demgemäß weniger dogmatisch als frühere Versionen. Sie spiegelt aber erkenntlich ein Spannungsfeld wider, indem sie zwar an der Definition des „nächstliegenden Stands der Technik“ als „erfolgversprechendsten Ausgangspunkt“ festhält, aber gleichzeitig einräumt, dass mehrere gleichwertige Ausgangspunkte existieren können; sie versucht jedoch, diese Flexibilität zu begrenzen, indem sie fordert, dass die Gleichwertigkeit „überzeugend gezeigt“ wird und die mangelnde erfinderische Tätigkeit ausgehend von nur einem relevanten Stand der Technik nachgewiesen werden kann.

Fazit: Die Position der Zentralkammer Paris – dass mehrere realistische Ausgangspunkte bestehen können und ein „vielversprechendster“ Ausgangspunkt nicht zwingend zu ermitteln ist – reflektiert eine differenzierte, flexible Sichtweise, wie sie auch der BGH seit langer Zeit vertritt. Sie steht im Gegensatz zur stärker schematisierten EPA-Praxis, die regelmäßig nach dem „nächstliegenden Stand der Technik“ verlangt – wenn auch am EPA eine sehr deutliche Tendenz zu erkennen ist, von der schematischen Suche nach dem „nächstliegenden Stand der Technik“ abzurücken.

BGH, KVB 61/23 – Apple

BGH, Beschluss vom 18. März 2025 – KVB 61/23 – Apple

Der Bundesgerichtshof (BGH) wies Apples Beschwerde gegen den Beschluss des Bundeskartellamts zurück und bestätigte damit, dass Apple eine überragende marktübergreifende Bedeutung für den Wettbewerb gemäß § 19a GWB zukommt. Diese Einschätzung stützt der BGH auf Apples erhebliche Tätigkeit auf mehrseitigen Märkten (wie App Store und Betriebssysteme), seine immense Finanzkraft, die tiefe vertikale Integration seines Ökosystems, den weitreichenden Zugang zu wettbewerbsrelevanten Daten trotz Datenschutzmaßnahmen sowie seine Schlüsselrolle für den Marktzugang Dritter (z.B. App-Entwickler). Der BGH stellte klar, dass für diese Feststellung keine konkrete Wettbewerbsgefährdung nachgewiesen werden muss und dass auch der Digital Markets Act (DMA) sowie Apples bisherige Anpassungen daran die festgestellte Bedeutung nicht entscheidend schmälern, wobei § 19a GWB als mit Unions- und Verfassungsrecht vereinbar angesehen wird.

Leitsätze:

a) Mehrseitige Märkte im Sinn des § 18 Abs. 3a GWB sind nicht nur Plattformen, auf denen Geschäftsabschlüsse zwischen verschiedenen Nutzergruppen stattfinden oder vermittelt werden; es genügt, dass durch die Plattform die Aufmerksamkeit einer Nutzergruppe auf die andere gelenkt oder eine Interaktion zwischen unterschiedlichen Nutzergruppen technisch ermöglicht wird.

b) Eine Tätigkeit „auf“ mehrseitigen Märkten liegt bereits mit dem Betreiben einer Plattform (insbesondere für digitale Leistungen) vor.

c) Ein Zugang zu wettbewerbsrelevanten Daten im Sinn des § 19a Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 GWB setzt voraus, dass das Unternehmen die tatsächliche und rechtliche Möglichkeit hat, die Daten zu erheben und zu nutzen; das bloße Zugangspotential reicht nicht aus.

d) Das Kriterium des § 19a Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 GWB nimmt allein die Marktbeherrschung des Unternehmens gemäß § 18 GWB auf einem oder mehreren Märkten in den Blick.

BGH, Urteil vom 10. April 2025 – I ZR 80/24 – Bewegungsspielzeug

BGH, Urteil vom 10. April 2025 – I ZR 80/24 – Bewegungsspielzeug

Leitsätze:

a) Bei der Prüfung einer unlauteren Nachahmung wegen mittelbarer Herkunftstäuschung setzt die Annahme, der Verkehr werde die Nachahmung für eine neue Serie des Originalherstellers halten,
jedenfalls voraus, dass der angesprochene Verkehr aufgrund von deutlich sichtbaren Anlehnungen in Gestaltungsmerkmalen, die den Gesamteindruck der Produkte prägen, davon ausgeht, dass die
Produkte von demselben Hersteller stammen. Je untergeordneter die übereinstimmenden Gestaltungsmerkmale für das Erscheinungsbild der Produkte sind, desto eher wird der angesprochene Verkehr geneigt sein, wegen anderer den Gesamteindruck des Originalprodukts vorrangig prägender, sich in der Nachahmung nicht wiederfindender Gestaltungsmerkmale die Erzeugnisse als individuelle Einzelprodukte anzusehen, und desto gewichtigere tatsächliche Anhaltspunkte müssen
für die Annahme vorliegen, dass der angesprochene Verkehr die Nachahmung einer neuen Serie des Originalherstellers zuordnet.

b) Der Gläubiger kann die Erstattung der Kosten für eine berechtigte Abmahnung grundsätzlich nur nach dem in der Abmahnung angegebenen Gegenstandswert verlangen.

Aus der Urteilsbegründung

In dem Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 10. April 2025 ging es um die Frage der unlauteren Nachahmung im Wettbewerbsrecht, insbesondere um eine angeblich vermeidbare Herkunftstäuschung im Zusammenhang mit Bewegungsspielzeug. Die Klägerin vertreibt seit 2017 ein Bewegungsspielzeug unter der Bezeichnung „Stapelstein“, während die Beklagte zu 1 seit 2021 ähnliche Produkte unter den Bezeichnungen „MeinKreativStein“ und „MeinVerwandlungsStein“ vertreibt.

Der BGH hob das Berufungsurteil des OLG Hamburg auf, das zugunsten der Klägerin entschieden hatte, und verwies die Angelegenheit teilweise zur erneuten Verhandlung an das Oberlandesgericht zurück. Der BGH führte aus, dass kein ausreichender Nachweis über eine vermeidbare Herkunftstäuschung vorlag. Während das Berufungsgericht der zweigeteilten Oberflächenstruktur und den haptischen Eigenschaften des Materials EPP große Bedeutung zum Maßstab der Herkunftstäuschung beimaß, sah der BGH solche Merkmale als nicht hinreichend prägend an. Die abweichenden Bezeichnungen „Stapelstein“ und „MeinKreativStein“ wurden ebenfalls als unterschiedlich betrachtet, insbesondere in Anbetracht der Produktform und dem fehlenden Bekanntheitsgrad des „Kreiselsteins“ als Serie.

Wegen der tatsachenbedingten und rechtlichen Komplikationen entschied der BGH, dass die Sache im Umfang der Aufhebung einer weiteren Beweisaufnahme bedarf, um festzustellen, ob tatsächlich eine unangemessene Rufaussnutzung vorliege, nach § 4 Nr. 3 Buchst. b UWG.