BGH, Urteil vom 18. Juni 2015 – I ZR 14/1 – Hintergrundmusik in Zahnarztpraxen
Amtlicher Leitsatz:
Die Wiedergabe von Hörfunksendungen in Wartezimmern von Zahnarztpraxen ist im Allgemeinen nicht als öffentliche Wiedergabe im Sinne von § 15 Abs. 3 UrhG anzusehen. Sie greift daher in der Regel nicht in das ausschließliche Recht der Urheber von Musikwerken oder Sprachwerken ein, Funksendungen ihrer Werke durch Lautsprecher öffentlich wahrnehmbar zu machen (§ 15 Abs. 2 Satz 1 und 2 Nr. 5 Fall 1, § 22 Satz 1 Fall 1 UrhG) und begründet auch keinen Anspruch der ausübenden Künstler auf angemessene Vergütung, soweit
damit Sendungen ihrer Darbietungen öffentlich wahrnehmbar gemacht werden (§ 78 Abs. 2 Nr. 3 Fall 1 UrhG).
Aus der Urteilsbegründung:
Eine öffentliche Wiedergabe im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29/EG und Art. 8 Abs. 2 Satz 1 der Richtlinie 2006/115/EG setzt nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zwingend eine unbestimmte Zahl potentieller Adressaten und recht viele Personen als Adressaten voraus. Nach der Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 15. März 2012 in der Sache „SCF/Del Corso“ ist davon auszugehen, dass diese Voraussetzung im Allgemeinen nicht erfüllt ist, wenn ein Zahnarzt in seiner Praxis für seine Patienten Hörfunksendungen als Hintergrundmusik wiedergibt.
Der Begriff „Öffentlichkeit“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29/EG und Art. 8 Abs. 2 Satz 1 der Richtlinie 2006/115/EG ist nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union nur bei einer unbestimmten Zahl potentieller Adressaten und recht vielen Personen erfüllt (vgl. EuGH, GRUR 2012, 593 Rn. 84 – SCF/Del Corso; GRUR 2012, 597 Rn. 33 – PPL/Irland; vgl. auch EuGH, GRUR 2013, 500 Rn. 32 – ITV Broadcasting/TVC). Um eine „unbestimmte Zahl potentieller Adressaten“ handelte es sich, wenn die Wiedergabe für Personen allgemein erfolgt, also nicht auf besondere Personen beschränkt ist, die einer privaten Gruppe angehören (vgl. EuGH, Urteil vom 2. Juni 2005 – C-89/04, Slg. 2005, I-4891 = ZUM 2005, 549 Rn. 30 – Mediakabel/Kommissariat für die Medien; Urteil vom 14. Juli 2005 – C-192/04, Slg. 2005, I-7199 = GRUR 2006, 50 Rn. 31 – Lagardère/SPRE und GVL; EuGH, GRUR 2007, 225 Rn. 37 – SGAE/Rafael; GRUR 2012, 593 Rn. 85 – SCF/Del Corso; GRUR 2012, 597 Rn. 34 – PPL/Irland). Mit dem Kriterium
„recht viele Personen“ ist gemeint, dass der Begriff der Öffentlichkeit eine bestimmte Mindestschwelle enthält und eine allzu kleine oder gar unbedeutende Mehrzahl betroffener Personen ausschließt. Zur Bestimmung dieser Zahl von Personen ist die kumulative Wirkung zu beachten, die sich aus der Zugänglichmachung der Werke bei den potentiellen Adressaten ergibt. Dabei kommt es darauf an, wie viele Personen gleichzeitig und nacheinander Zugang zu demselben Werk haben (vgl. EuGH, GRUR 2007, 225 Rn. 38 – SGAE/Rafael;
GRUR 2012, 593 Rn. 86 und 87 – SCF/Del Corso; GRUR 2012, 597 Rn. 35 – PPL/Irland; GRUR 2013, 500 Rn. 33 – ITV Broadcasting/TVC).
Diese Voraussetzungen sind nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union beispielsweise erfüllt, wenn der Betreiber eines Hotels in Rundfunksendungen übertragene Werke oder abgespielte Tonträger für seine Gäste über in deren Zimmern aufgestellte Fernseh- oder Radiogeräte überträgt (zu Art. 3 Abs. 1 der Richtline 2001/29/EG EuGH, GRUR 2007, 225 Rn. 37 bis 39 – SGAE/Rafael; zu Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2006/115/EG EuGH, GRUR 2012, 597 Rn. 41 und 42 – PPL/Irland) oder der Inhaber einer Gastwirtschaft im Rundfunk gesendete Werke über einen Fernsehbildschirm und Lautsprecher für die sich in seiner Gastwirtschaft aufhaltenden Gäste wiedergibt (vgl. zu Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29/EG EuGH, GRUR 2012, 156 Rn. 183 bis 207 – Football Association Premier League und Murphy) oder der Betreiber einer Kureinrichtung in Rundfunksendungen wiedergegebene Werke an seine Patienten über in deren Zimmern aufgestellte Fernseh- oder Radioempfänger übermittelt (zu Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29/EG EuGH, GRUR 2014, 473 Rn. 27 bis 30 – OSA/Lécebné lázne). Nicht erfüllt sind diese Voraussetzungen nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union dagegen bei einer Wiedergabe von Funksendungen durch einen Zahnarzt an die Patienten seiner Praxis. Der Gerichtshof der Europäischen Union hat dazu in seinem Urteil vom 15. März 2012 ausgeführt, die Patienten eines Zahnarztes bildeten üblicherweise eine bestimmte Gesamtheit potentieller Leistungsempfänger, da andere Personen grundsätzlich keinen Zugang zur Behandlung durch den Zahnarzt hätten. Zudem sei die Zahl der Patienten, für die ein Zahnarzt denselben Tonträger hörbar mache, unerheblich oder sogar unbedeutend, da der Kreis der gleichzeitig in der Praxis anwesenden Personen im Allgemeinen sehr begrenzt sei und aufeinander folgende Patienten in aller Regel nicht Hörer derselben Tonträger seien, insbesondere wenn diese über Rundfunk wiedergegeben würden (vgl. EuGH, GRUR 2012, 593 Rn. 95 und 96 – SCF/Del Corso).