BGH, X ZR 110/13 – Entsperrbild (Slide to Unlock)

BGH, Urteil vom 25. August 2015 – X ZR 110/13 – Entsperrbild

a) Bei der Prüfung der erfinderischen Tätigkeit bleiben Anweisungen, die die Vermittlung bestimmter Inhalte betreffen und damit darauf zielen, auf die
menschliche Vorstellung oder Verstandesfähigkeit einzuwirken, als solche außer Betracht. Anweisungen, die Informationen betreffen, die nach der erfindungsgemäßen Lehre wiedergegeben werden sollen, können die Patentfähigkeit unter dem Gesichtspunkt der erfinderischen Tätigkeit nur insoweit
stützen, als sie die Lösung eines technischen Problems mit technischen Mitteln bestimmen oder zumindest beeinflussen (Bestätigung von BGH, Urteil
vom 26. Oktober 2010 – X ZR 47/07, GRUR 2011, 125 – Wiedergabe topografischer Informationen; Urteil vom 26. Februar 2015 – X ZR 37/13, GRUR
2015, 660 – Bildstrom).

b) Informationsbezogene Merkmale eines Patentanspruchs sind darauf hin zu untersuchen, ob die wiederzugebende Information sich zugleich als Ausführungsform eines – im Patentanspruch nicht schon anderweitig als solches angegebenen – technischen Lösungsmittels darstellt. In einem solchen Fall ist das technische Lösungsmittel bei der Prüfung auf Patentfähigkeit zu berücksichtigen.

BGH, X ZR 112/13 – Teilreflektierende Folie

BGH, Urteil vom 15. September 2015 – X ZR 112/13 – Teilreflektierende Folie

Amtlicher Leitsatz:

Die Priorität einer Voranmeldung, die eine Bereichsangabe enthält, kann jedenfalls
dann wirksam in Anspruch genommen werden, wenn der in der Nachanmeldung
beanspruchte, innerhalb dieses Bereichs liegende einzelne Wert oder
Teilbereich in der Voranmeldung als mögliche Ausführungsform der Erfindung
offenbart ist.

Gebührenrechtlicher Fallstrick: Beschwerdeeinlegung durch Mehrheit von Anmeldern oder Patentinhabern

In der Entscheidung BGH, Beschluss vom 18.08.2015, X ZB 3/14, Mauersteinsatz , deren Leitsätze bereits hier in diesem Blog berichtet wurden, hat der Bundesgerichtshof die Auffassung des 10. Senats des Bundespatentgerichts (BPatG, Beschluss vom 03. Dezember 2013, 10 W (pat) 17/14) bestätigt, dass bei Beschwerdeeinlegung durch mehrere Patentanmelder (Anmelderbeschwerde) oder mehrere Patentinhaber (Einspruchsbeschwerde) auch die Beschwerdegebühr für jeden der Beschwerdeführer separat anfällt.

Grund hierfür ist die schon mehrere Jahre zurückliegende Änderung der Vorbemerkung zu Teil B des als Anlage zu § 2 Abs. 1 PatKostG erlassenen Gebührenverzeichnisses durch das „Gesetz zur Änderung des patentamtlichen Einspruchsverfahrens und des Patentkostengesetzes“ vom 21. Juni 2006. Die Vorbemerkung ordnet nunmehr an, dass die Gebühren mit den Gebührennummer 400 000 bis 401 300 in Teil B des Gebührenverzeichnisses (insbesondere die Beschwerdegebühr) für „jeden Antragsteller“ fällig sind.

Diese Entscheidung ist von großer praktischer Relevanz und weicht von der langjährigen Übung der Beschwerdesenate des Bundespatentgerichts ab, die aufgrund der notwendigen Streitgenossenschaft von Anmeldern oder Schutzrechtsinhabern auch nach der Änderung der Vorbemerkung zu Teil B des Gebührenverzeichnisses davon ausgegangen sind, dass nur eine Beschwerdegebühr fällig wird (vgl. etwa BPatG, Beschluss vom 05. März 2015, 35 W (pat) 12/13).

Die Entscheidung BGH, Beschluss vom 18.08.2015, X ZB 3/14, Mauersteinsatz wird nicht nur für das patentrechtliche Verfahren, sondern auch für marken-, gebrauchsmuster- und designrechtliche Beschwerdeverfahren Bedeutung haben, auf die Teil B des PatKostG ebenfalls anwendbar ist. Derzeit dürfte eine nicht unerhebliche Anzahl von Beschwerdeverfahren anhängig sein, in denen eine Anmelder- oder Schutzrechtsinhabermehrheit Beschwerdeführer ist, aber nur eine einzige Beschwerdegebühr entrichtet wurde.

Für derartige Fälle ist zu prüfen, ob die entrichtete Beschwerdegebühr einem der Beschwerdeführer zugeordnet werden kann. So wurde in der Entscheidung BGH, Beschluss vom 18.08.2015, X ZB 3/14, Mauersteinsatz die Angabe des Namens nur eines der gemeinschaftlichen Patentinhaber auf dem vom anwaltlichen Vertreter unterzeichneten Lastschriftmandat abweichend von der Vorinstanz als ausreichend angesehen, die Zahlung der Beschwerdegebühr eben diesem (Mit-)Inhaber zuzuordnen.

Sowohl die Entscheidung BGH, Beschluss vom 18.08.2015, X ZB 3/14, Mauersteinsatz als auch die erstinstanzliche Entscheidung BPatG, Beschluss vom 03. Dezember 2013, 10 W (pat) 17/14 stützen sich unter anderem darauf, die Gesetzesbegründung des Gesetzes zur Änderung des patentamtlichen Einspruchsverfahrens und des Patentkostengesetzes“ vom 21. Juni 2006 lasse nicht erkennen, dass eine gebührenrechtliche Privilegierung einer Mehrheit von Anmeldern oder Schutzrechtsinhabern gegenüber einer Mehrheit von Einsprechenden, Widersprechenden oder Löschungsantragstellern (Marke, Gebrauchsmuster) vom Gesetzgeber gewollt war. Dies scheint jedoch nur bedingt zuzutreffen. Zwar wird in der Gesetzesbegründung ausgeführt, die Gebührentragungspflicht im Beschwerdeverfahren treffe jeden Verfahrensbeteiligten, dies jedoch nur ebenso wie im patentamtlichen Verfahren … (siehe Begründung zur Vorbemerkung zu Teil A des Gebührenverzeichnisses)“ (BlPMZ 2006, 235, li. Spalte). Da in der Vorbemerkung zu Teil A des Gebührenverzeichnisses eine jeden Antragsteller treffende Gebührentragungspflicht bei den technischen Schutzrechen nur für Einsprechende im patentrechtlichen Einspruchsverfahren (Gebührenziffer 313 600) und Löschungsantragsteller im Gebrauchsmusterlöschungsverfahren (Gebührenziffer 323 100) angeordnet wird, könnte die Gesetzesbegründung durchaus dafür streiten, dass im Beschwerdeverfahren unterschiedliche Regeln für Personenmehrheiten auf Seiten des Schutzrechtsinhabers einerseits, die dem Zwang einer einheitlichen Antragsstellung unterliegen, und auf Seiten desjenigen, der das Schutzrecht angreift und keinem Zwang zur einheitlichen Antragsstellung unterliegt, gelten könnten.

Die in der Entscheidung BGH, Beschluss vom 18.08.2015, X ZB 3/14, Mauersteinsatz nunmehr geklärte Gebührentragungspflicht bei einer Personenmehrheit auf Seiten des Anmelders oder Schutzrechtsinhabers hat übrigens auch schwer nachvollziehbare praktische Konsequenzen. So ist eine Folge beispielsweise, dass bei einem patentamtlichen Beschränkungs- oder Widerrufsverfahren mehrere gemeinschaftliche Patentinhaber nur eine einzige Gebühr 313 700 zu entrichten haben, da Vorbemerkung (2) zu Teil A des Gebührenverzeichnisses PatKostG nicht anordnet, dass diese Gebühr für jeden Antragsteller zu entrichten ist, aber
bei einem nachfolgenden Beschwerdeverfahren jeder beschwerdeführende Schutzrechtsinhaber eine Beschwerdegebühr entrichten muss.

BGH, X ZB 3/14 – Mauersteinsatz

BGH, Beschluss vom 18. August 2015 – X ZB 3/14 – Mauersteinsatz

Amtliche Leitsätze:

a) Legen mehrere Patentinhaber gegen eine Entscheidung des Deutschen Patent und Markenamts im Einspruchsverfahren Beschwerde ein, hat jeder eine Beschwerdegebühr (Gebührenverzeichnis zum PatKostG Nr. 401 100) zu entrichten.

b) Wird bei einer von mehreren Beteiligten erhobenen Beschwerde nur eine Gebühr gezahlt, ist zu prüfen, ob die entrichtete Gebühr einem der Beschwerdeführer zugeordnet werden kann.

BPatG, 5 W (pat) 9/13 – Polyurethanschaum

BPatG, Urteil v. 24. Juni 2015 – 15 W (pat) 9/13 – Polyurethanschaum

Amtlicher Leitsatz:

Der Sinngehalt der Merkmale von Patentansprüchen ist auch im Prüfungsverfahren aus der Sicht des zuständigen Fachmanns auszulegen. Sofern das zur Auslegung notwendige Wissen keinen oder nur unvollständigen Eingang in die Patentanmeldung gefunden hat, ist es durch die Prüfungsstelle zu ermitteln und gegebenenfalls zu dokumentieren, um den beanspruchten Gegenstand in nachvollziehbarer Weise für die sich anschließende Prüfung auf Patentfähigkeit festzulegen.

BGH: Bundesgerichtshof erklärt Patent zur Entsperrung eines Touchscreens für nichtig

Mitteilung der Pressestelle Nr. 151/2015 zu Urteil vom 25. August 2015 – X ZR 110/13

Die beklagte Apple Inc. ist Inhaberin des auch in Deutschland geltenden europäischen Patents 1 964 022 (Streitpatents). Die Klägerin Motorola Mobility Germany GmbH hat das Streitpatent mit einer Patentnichtigkeitsklage angegriffen.

Die Erfindung betrifft eine Maßnahme zum Entsperren einer tragbaren elektronischen Vorrichtung mit berührungsempfindlichem Bildschirm (Touchscreen), beispielsweise eines Mobiltelefons. Nach den Ausführungen der Patentschrift war es bekannt, solche Geräte gegen unabsichtliche Funktionsauslösung durch zufälligen Berührungskontakt zeitweise zu sperren und durch Berührung bestimmter Bildschirmbereiche in einer vorgegebenen Reihenfolge wieder zu entsperren. Das Streitpatent möchte das Entsperren benutzerfreundlicher gestalten. Es schlägt daher im Wesentlichen vor, dass der Nutzer zum Entsperren des Geräts eine bestimmte (Finger-)Bewegung (Wischbewegung) auf der Berühroberfläche ausführt. Dabei wird ihm auf dem Bildschirm eine grafische Hilfestellung gegeben, indem sich ein Entsperrbild „im Einklang mit der Fingerbewegung“ auf einem vorgegebenen Pfad auf dem Bildschirm bewegt.

Das Bundespatentgericht hat das Streitpatent gemäß Art. II § 6 Satz 1 Nr. 1 IntPatÜbkG* mit Wirkung für die Bundesrepublik Deutschland für nichtig erklärt und auch die hilfsweise verteidigten beschränkten Fassungen des Patents für nicht rechtsbeständig gehalten. Der Gegenstand des Streitpatents sei nicht patentfähig (Art. 52 Abs. 1 EPÜ**), weil er nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhe (Art. 56 Satz 1 EPÜ***). Das von dem schwedischen Hersteller Neonode vertriebene Mobiltelefon N1 nehme alle Merkmale der Erfindung bis auf die Anweisung vorweg, dem Nutzer auf dem Bildschirm ein Entsperrbild anzuzeigen, das sich im Einklang mit der – als solche bekannten – Fingerbewegung auf einem vorgegebenen Pfad auf dem Bildschirm bewegt. Dieses Merkmal sei jedoch bei der Beurteilung der Patentfähigkeit nicht zu berücksichtigen, weil es kein technisches Problem löse, sondern lediglich auf die Vorstellung des Benutzers einwirke, indem es durch grafische Maßnahmen die Bedienung des Geräts vereinfache.

Der u.a. für das Patentrecht zuständige X. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Er hat zwar bei der Prüfung der Patentfähigkeit – anders als das Bundespatentgericht – berücksichtigt, dass die Erfindung insofern über den durch das Mobiltelefon Neonode N1 verkörperten Stand der Technik hinausgeht, als die Entsperrung dem Benutzer durch eine den Entsperrvorgang begleitende grafische Darstellung angezeigt wird. Eine solche benutzerfreundlichere Anzeige war dem Fachmann jedoch durch den Stand der Technik nahegelegt. Denn dort wird ein „virtueller Schalter“ beschrieben, der durch eine Wischbewegung auf einem berührungsempfindlichen Bildschirm mittels „Verschiebens“ eines grafischen Objekts einen Schieberegler imitiert. Das Streitpatent beruht daher nicht auf erfinderischer Tätigkeit.

BGH, X ZR 60/13 – Verdickerpolymer I

BGH, Urteil vom 5. Mai 2015 – X ZR 60/13 – Verdickerpolymer I

Amtlicher Leitsatz:

Werden als Bestandteile einer Stoffzusammensetzung mehrere Stoffe oder Stoffgruppen alternativ beansprucht, fehlt es dem Gegenstand des Patents bereits dann an der erforderlichen Neuheit in der gesamten beanspruchten Bandbreite, wenn einer dieser Stoffe oder eine dieser Stoffgruppen als Bestandteil einer solchen Zusammensetzung bekannt war.

Probleme mit dem deutschen Trennungsprinzip in Patentstreitigkeiten – Anmerkung zu BGH X ZR 103/13 Kreuzgestänge

Die Leitsätze der Entscheidung BGH, Urteil vom 02.07.2015 – X ZR 103/13 – Kreuzgestänge wurden in diesem Blog bereits berichtet.

Diese Entscheidung zeigt mögliche Probleme auf, die sich aus dem Trennungsprinzip ergeben, nach dem der Instanzenzug für Rechtsbestandsverfahren und Verletzungsverfahren erst beim BGH zusammenläuft. Zum Leitsatz hat der Bundesgerichtshof in der Entscheidung BGH, Urteil vom 02.07.2015 – X ZR 103/13 – Kreuzgestänge erhoben:

Das Verletzungsgericht hat das Klagepatent selbständig auszulegen und ist weder rechtlich noch tatsächlich an die Auslegung durch den Bundesgerichtshof in einem das Klagepatent betreffenden Patentnichtigkeitsverfahren gebunden.

Dies ist bereits in BGH, Urteil vom 17.04.2007 – X ZR 72/05 – Ziehmaschinenzugeinheit angeklungen, wenn auch spezifisch für den Fall, dass die klageabweisenden Gründe, mit denen ein Patent beschränkt aufrechterhalten wird, zu einer Auslegung unter den Sinngehalt der Patentansprüche führen würden:

Schränken die sich mit der Teilabweisung befassenden Entscheidungsgründe des Nichtigkeitsurteils den Sinngehalt eines die Erfindung allgemein kennzeichnenden Patentanspruchs im Sinne einer Auslegung unter seinen Wortlaut ein, erlaubt dies im Verletzungsprozess ebenso wenig eine einschränkende Auslegung dieses Patentanspruchs wie bei sich aus Beschreibung oder Zeichnungen des Patents ergebenden Beschränkungen.

Der Bundesgerichtshof erkennt im Urteil vom 02.07.2015 – X ZR 103/13 – Kreuzgestänge an, dass Szenarien denkbar sind, in denen das später entscheidende Instanzgericht im Verletzungsverfahren aufgrund weiterer, besserer Erkenntnis zu einer anderen Anspruchsauslegung gelangen kann als der Bundesgerichtshof im vorangegangenen Nichtigkeitsberufungsverfahren (vgl. Rn. 20):

Dies schließt die Möglichkeit ein, dass das Verletzungsgericht zu einem Auslegungsergebnis gelangt, das von demjenigen abweicht, das der Bundesgerichtshof in einem dasselbe Patent betreffenden Patentnichtigkeitsverfahren gewonnen hat. Eine solche Divergenz rechtfertigt zwar, wenn sie entscheidungserheblich ist, die Zulassung der Revision … In diesen wie in jenen Fällen hat das Revisionsgericht zu prüfen, ob es an seiner bisherigen Rechtsprechung festhält oder die besseren Gründe für die Beurteilung des Berufungsgerichts streiten. Eine solche bessere Erkenntnis kann sich im Patentstreitverfahren zudem aus vom Berufungsgericht festgestellten, der revisionsrechtlichen Prüfung zugrunde zu legenden Tatsachen ergeben, die im Nichtigkeitsverfahren nicht festgestellt worden sind, sich aber auf die Auslegung des Patents auswirken.

Eine für den vermeintlichen Patentverletzer sehr missliche Situation ergibt sich, wenn im Rechtsbestandsverfahren die Nichtigkeitsklage aufgrund enger Anspruchsauslegung abgewiesen wurde, im Verletzungsverfahren nach dem rechtskräftigen Abschluss des Rechtsbestandsverfahrens das Berufungsgericht die Verletzung aufgrund einer breiten Anspruchsauslegung jedoch bejaht. Wenn – wie in Rn. 20 des Urteils vom 02.07.2015 – X ZR 103/13 – Kreuzgestänge angedeutet – in einem Einzelfall eine bessere Erkenntnis im Patentverletzungsverfahren für eine breite Anspruchsauslegung streiten würde, die der Bundesgerichtshof als Revisionsgericht im Verletzungsverfahren teilt, würde eine Patentverletzung auf Basis einer breiten Anspruchsauslegung festgestellt werden, während die Nichtigkeitsklage bereits vorher aufgrund einer engen Anspruchsauslegung rechtskräftig abgewiesen wurde.

Es stellt sich die Frage, wie der Patentverletzer in einem solchen Fall vorgehen könnte. Eine Restitutionsklage hält der BGH aus § 580 Nr. 6 ZPO für möglich, wenn das Verletzungsverfahren rechtskräftig abgeschlossen wurde, bevor eine teilweise oder vollständige Nichtigerklärung des Streitpatents erfolgte (BGH, Urteil vom 28.09.2011 – X ZR 68/10 – Klimaschrank), der Zeitablauf also im Vergleich zur Kreuzgestänge-Entscheidung gerade umgekehrt ist. Bei einer umgekehrten zeitlichen Abfolge (rechtskräftiger Abschluss des Rechtsbestandsverfahrens vor dem rechtskräftigen Abschluss des Verletzungsverfahrens) scheint eine Anwendbarkeit des Restitutionsgrunds § 580 Nr. 6 ZPO eher fernliegend, da das Rechtsbestandsverfahren nicht auf das Urteil des Verletzungsverfahrens gegründet ist. Denkbar wäre möglicherweise eine Durchbrechung der Rechtskraftwirkung des ersten Nichtigkeitsverfahrens. Die (breitere) Auslegung des Anspruchs durch das Revisionsgericht im Verletzungsverfahren könnte eine nicht präkludierte, nachträglich entstandene Tatsache darstellen, die für Durchbrechung der Rechtskraftwirkung streiten und dem Patentverletzer eine erneute Nichtigkeitsklage aus dem bereits im ersten Verfahren geltend gemachten Nichtigkeitsgrund eröffnen könnte.

BGH, X ZR 103/13 – Kreuzgestänge

BGH, Urteil vom 2. Juni 2015 – X ZR 103/13 – Kreuzgestänge

Amtliche Leitsätze:

a) Das Verletzungsgericht hat das Klagepatent selbständig auszulegen und ist weder rechtlich noch tatsächlich an die Auslegung durch den Bundesgerichtshof in einem das Klagepatent betreffenden Patentnichtigkeitsverfahren gebunden.

b) Werden in der Beschreibung eines Patents mehrere Ausführungsbeispiele als erfindungsgemäß vorgestellt, sind die im Patentanspruch verwendeten Begriffe im Zweifel so zu verstehen, dass sämtliche Beispiele zu ihrer Ausfüllung herangezogen werden können. Nur wenn und soweit sich die Lehre des Patentanspruchs mit der Beschreibung und den Zeichnungen nicht in Einklang bringen lässt und ein unauflösbarer Widerspruch verbleibt, dürfen diejenigen Bestandteile der Beschreibung, die im Patentanspruch keinen Niederschlag gefunden haben, nicht zur Bestimmung des Gegenstands des Patents herangezogen werden.

Aus der Urteilsbegründung:

Die Bestimmung des Sinngehalts eines Patentanspruchs ist Rechtserkenntnis und vom Verletzungsgericht, wie von jedem anderen damit befassten Gericht, eigenverantwortlich vorzunehmen (BGH, Urteil vom 31. März 2009 – X ZR 95/05, BGHZ 180, 215 Rn. 16 – Straßenbaumaschine; BGH, Beschluss vom 29. Juni 2010 – X ZR 193/03, BGHZ 186, 90 Rn. 15 – Crimpwerkzeug III). Dies schließt die Möglichkeit ein, dass das Verletzungsgericht zu einem Auslegungsergebnis gelangt, das von demjenigen abweicht, das der Bundesgerichtshof in einem dasselbe Patent betreffenden Patentnichtigkeitsverfahren gewonnen hat. Eine solche Divergenz rechtfertigt zwar, wenn sie entscheidungserheblich ist, die Zulassung der Revision (BGHZ 186, 90 Rn. 11 ff. – Crimpwerkzeug III). Sie unterscheidet sich darin aber nicht von anderen Fällen einer von einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs abweichenden und deshalb nach § 543 Abs. 2 Nr. 2 ZPO die Zulassung der Revision rechtfertigenden Beurteilung einer Rechtsfrage durch ein Berufungsgericht. In diesen wie in jenen Fällen hat das Revisionsgericht zu prüfen, ob es an seiner bisherigen Rechtsprechung festhält oder die besseren Gründe für die Beurteilung des Berufungsgerichts streiten. Eine solche bessere Erkenntnis kann sich im Patentstreitverfahren zudem aus vom Berufungsgericht festgestellten, der revisionsrechtlichen Prüfung zugrunde zu legenden Tatsachen ergeben, die im Nichtigkeitsverfahren nicht festgestellt worden sind, sich aber auf die Auslegung des Patents auswirken (BGH, Urteil vom 11. Oktober 2005 – X ZR 76/04, BGHZ 164, 261 Rn. 19 – Seitenspiegel; Urteil vom 12. Februar 2008 – X ZR 153/05, GRUR 2008, 779 Rn. 31 – Mehrgangnabe).

BPatG, 15 W (pat) 27/12 – Modifizierte Epoxidharze

BPatG, Urt. v. 6. Juli 2015 – 15 W (pat) 27/12 – Modifizierte Epoxidharze

Amtlicher Leitsatz:

Sind in einem Patentanspruch unterschiedliche Lösungen der gleichen erfinderischen Idee über die eine Verknüpfung oder eine Alternative ausdrückende Konjunktion „und/oder“ verbunden, stellt eine daraus resultierende Breite des Patentanspruchs keine Frage der Klarheit, sondern eine Frage der Neuheit und erfinderischen Tätigkeit dar (vgl. auch 20 W (pat) 305/02).