EPG, UPC_CoA_402/2024: Entscheidung über einen Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens

EPG, Berufungskammer, Beschl. v. 19. Juni 2025 – UPC_CoA_402/2024

Leitsatz:

Das Berufungsgericht setzt die allgemeinen Grundsätze dar, die bei der Entscheidung über einen Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens aufgrund eines grundlegenden Verfahrensfehlers gemäß Art. 81(1)(b) EPGÜ [→ Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens] i.V.m. Regel 247(c) EPGVO [→ Verletzung von Artikel 76 des Übereinkommens] zu berücksichtigen sind (grundlegender Verfahrensfehler; grundlegende Verletzung von Art. 76 EPGÜ).

Rechtssätze der Entscheidungsgründe (übersetzt)

Die Gesetzgeber haben ausdrücklich bestimmt, dass Entscheidungen des Berufungsgerichts endgültig sind. Eine weitere Berufung gegen diese Entscheidungen ist im EPGÜ oder der EPGVO nicht vorgesehen.

Art. 81(1) EPGÜ [→ Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens] eröffnet die Möglichkeit, nach einer endgültigen Entscheidung die Wiederaufnahme des Verfahrens zu beantragen, wenn – kurz gesagt – diese auf einer Handlung beruht, die als Straftat eingestuft wurde, oder wenn ein grundlegender Verfahrensfehler vorliegt. Diese Umstände dürfen nicht bekannt gewesen sein oder, bei einem grundlegenden Verfahrensfehler, sofern bekannt, während des Verfahrens, das zur Entscheidung geführt hat, oder im Berufungsverfahren bereits gerügt worden sein (vgl. R. 248 EPGVO), es sei denn, eine solche Rüge konnte damals nicht erhoben werden.

Der Wortlaut des Art. 81(1) EPGÜ macht deutlich, dass eine Wiederaufnahme nur ausnahmsweise gewährt werden darf, wenn die Entscheidung an einem dieser schwerwiegenden Mängel leidet. Die Wiederaufnahme ist somit kein reguläres Rechtsmittelverfahren, sondern ein außergewöhnliches Rechtsmittel. Nur grundlegende Verfahrensfehler können eine Grundlage für die Wiederaufnahme bilden.

Es ist daher nicht beabsichtigt, dass bloße Fehler jeglicher Art einen Grund für die Wiederaufnahme eines Verfahrens darstellen können. Um als Grund für eine Wiederaufnahme zu qualifizieren, muss ein Verfahrensfehler so fundamental sein, dass er für das Rechtssystem untragbar ist und das Prinzip überwiegt, dass Verfahren, die zu einer endgültigen Entscheidung geführt haben, im Interesse der Rechtssicherheit nicht wiedereröffnet werden sollen.

Ein Mangel kann außerdem nur dann als grundlegend angesehen werden, wenn festgestellt werden kann, dass ohne diesen Mangel nicht dieselbe Entscheidung getroffen worden wäre (vgl. Urteil vom 3. Juli 2014, Kamino International Logistics und Datema Hellmann Worldwide Logistics, C-129/13 und C-130/13, EU:C:2014:2041, Rn. 79 und die dort zitierte Rechtsprechung). Dies hat der Antragsteller darzulegen.


Es ist Sache der Parteien, die von ihnen für erheblich erachteten Argumente vorzubringen. Die Bewertung der von den Parteien vorgetragenen Argumente und die daraus gezogenen Schlussfolgerungen können für sich genommen nicht Gegenstand einer Überprüfung im Rahmen eines Wiederaufnahmeverfahrens sein. Wie sich aus dem Vorstehenden ergibt, gilt dies selbst dann, wenn eine solche Bewertung als fehlerhaft angesehen werden könnte, solange der Fehler keinen grundlegenden Mangel im Sinne des Art. 81(1) EPGÜ darstellt.

Dasselbe gilt für Beweismittel. Es ist Sache der Parteien, sämtliche zur Untermauerung ihrer Argumente erforderlichen Beweismittel vorzulegen. Das Gericht bewertet die von den Parteien vorgelegten Beweise frei und unabhängig (Art. 76(3) EPGÜ). Das Gericht kann selbst beurteilen, welches Gewicht Gutachten von Sachverständigen und Zeugenaussagen haben, wobei es auch seine Einschätzung der Neutralität eines Sachverständigen oder Zeugen berücksichtigen darf. Die Art und Weise, wie Fragen gestellt oder Antworten formuliert werden, kann bei dieser Beurteilung einen Anhaltspunkt bilden.

Es ist Aufgabe des Gerichts, die Relevanz für den Streitgegenstand und die Notwendigkeit der Vernehmung der benannten und beantragten Zeugen zu beurteilen. Ebenso besteht grundsätzlich keine Verpflichtung für das Gericht, einen der als Beweismittel vorgelegten Sachverständigen anzuhören. Dies gilt umso mehr in Verfahren über vorläufige Maßnahmen. Gemäß letzter Satz von R. 210.2 EPGVO findet Teil 2 der Beweisregeln auf diese Verfahren nur insoweit Anwendung, wie das Gericht dies bestimmt.

Wird eine Tatsachenbehauptung von keiner Partei ausdrücklich bestritten, gilt sie nach R. 171.2 EPGVO zwischen den Parteien als wahr. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die für diese Tatsache geltend gemachte Rechtsfolge automatisch daraus folgt. Es obliegt immer noch dem Gericht zu entscheiden, ob die vorgetragenen Tatsachen die geltend gemachte Rechtsfolge rechtfertigen (Berufungsgericht, Kodak v Fujifilm, 17. April 2025, UPC_CoA_312/2025, Rn. 12).

Die Auslegung eines Patentanspruchs ist eine Rechtsfrage (Berufungsgericht, Insulet v EoFlow, 30. April 2025, UPC_CoA_768/2024, Rn. 37). Bei der Auslegung eines Anspruchs hat das Berufungsgericht festzustellen, wie die Fachkraft die im Patentanspruch verwendeten Begriffe im Kontext des Gesamtpatentanspruchs und unter Berücksichtigung der Beschreibung und Zeichnungen versteht. Hierbei werden die vorgebrachten Argumente und Tatsachen, einschließlich etwaiger Sachverständigengutachten, frei und unabhängig gewürdigt, jedoch ohne daran gebunden zu sein.

Insofern gibt es keinen Grund, weshalb die Entscheidung der Technischen Beschwerdekammern in Einspruchsverfahren bezüglich des Streitpatents, sofern sie von einer der Parteien vorgebracht wird, nicht als Anhaltspunkt für die Ansichten des Fachmanns zum Anmeldetag herangezogen werden könnte.


Das Gericht ist frei, in Rechtsfragen eigene Feststellungen zu treffen. Die Parteien haben die relevanten Rechtsnormen, einschließlich hierzu entwickelter Rechtsprechung, zu kennen und deren eventuelle Anwendung im konkreten Fall zu antizipieren.

Zu der Rechtsprechung, deren Kenntnis von den Parteien verlangt werden kann, gehören die Entscheidungspraxis der Technischen Beschwerdekammern (TBA) und der Großen Beschwerdekammer (EBA) des Europäischen Patentamts (EPA), sofern sie für die vorliegende Frage und die vorgebrachten Argumente relevant ist. Zwar ist das Berufungsgericht an diese Rechtsprechung nicht gebunden, es besteht jedoch Anlass, insbesondere TBA- und noch mehr EBA-Entscheidungen zu berücksichtigen, da sie die gleichen materiell-rechtlichen Vorschriften des Europäischen Patentübereinkommens (EPÜ) anwenden wie das Gericht. Einen ähnlichen Ansatz verfolgen auch die nationalen Gerichte der Vertragsmitgliedstaaten und anderer EPÜ-Vertragsstaaten wie das Vereinigte Königreich, deren nationales Recht im Wesentlichen auf den materiell-rechtlichen Vorschriften des EPÜ beruht. Parteivertreter müssen daher mit der relevanten von TBA und EBA entwickelten Rechtsprechung vertraut sein.


Relevante Rechtsnormen: Allgemeiner Rechtsgrundsatz im Kontext EPÜ
„Eine Gerichtsentscheidung muss die Gründe und die Tatsachen sowie Argumente enthalten, auf die das Gericht seine Entscheidung stützt (R. 350 EPGVO). Das Gericht muss alle von den Parteien vorgebrachten Argumente berücksichtigen, ist aber nicht verpflichtet, in seinem Beschluss oder Urteil explizit und ausführlich auf jedes einzelne Argument einzugehen. Das Gericht kann Argumente, die irrelevant oder offensichtlich fehlerhaft sind, außer Acht lassen oder ein Argument implizit zurückweisen, etwa wenn dessen Ablehnung aus weiteren Erwägungen des Gerichts hervorgeht. Dies gilt erst recht für in Anlagen, wie etwa Gutachten, vorgebrachte Argumente. Im Verfahren über vorläufige Maßnahmen ist der anzuwendende Prüfungsmaßstab insoweit niedriger.

Das rechtliche Gehör spiegelt sich in Art. 76(2) EPGÜ wider, der vorsieht, dass Entscheidungen in der Sache nur auf Gründe, Tatsachen und Beweise gestützt werden dürfen, die von den Parteien vorgebracht wurden oder durch gerichtlichen Beschluss in das Verfahren eingeführt wurden, und zu denen die Parteien Gelegenheit zur Stellungnahme hatten. Es ist nicht erforderlich, dass eine Partei immer Gelegenheit haben muss, sich schriftlich zu äußern.

Sofern die Entscheidung nicht objektiv unvorhersehbar war und keine Überraschung für den gut informierten Vertreter enthielte, beispielsweise, weil sie mit der etablierten Rechtsprechung unvereinbar oder von dieser grundlegend abweicht oder sich auf zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung noch nicht bekannte Rechtsprechung stützt, ist das Gericht nicht verpflichtet, den Parteien im Vorfeld seine (vorläufige) Auffassung zu einer Streitfrage oder deren Grundlage mitzuteilen, weder in einer Zwischenkonferenz noch in einer vor der mündlichen Verhandlung abgegebenen vorläufigen Einschätzung. Weder das EPGÜ noch die EPGVO sehen ein solches System vor. Das Gericht kann eine vorläufige Einführung zur Klage (R. 112.4 EPGVO) liefern, die eine vorläufige Einschätzung enthalten kann, aber nicht enthalten muss.

Auch wenn Art. 76(2) EPGÜ sich auf Entscheidungen in der Sache bezieht, gilt das rechtliche Gehör grundsätzlich auch im Verfahren über vorläufige Maßnahmen, wobei dort ein weniger strenger Maßstab anzulegen ist oder – abhängig von den Umständen – das Prinzip gar nicht gilt (zum Beispiel in ex-parte-Verfahren, in denen aber, um dem Beklagten soweit wie möglich Gehör zu verschaffen, eine Schutzschrift, sofern eingereicht, nebst etwaiger Korrespondenz zwischen den Parteien und weiteren maßgeblichen Tatsachen, die der Antragsteller gemäß R. 205.3(b) und .4 EPGVO vorlegen muss, zu berücksichtigen ist (R. 207.8 EPGVO)).

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