G 1/24: Beschreibung und Zeichnungen stets maßgeblich für die Auslegung

G 1/24, Große Beschwerdekammer, Beschluss v. 18.06.2025

Die Große Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts hat am 18. Juni 2025 in der Sache G 1/24 (Vorlage T 0439/22-3.2.01) entschieden. Die Entscheidung wird demnächst im Amtsblatt des EPA veröffentlicht.

Ausgangspunkt war eine Vorlagefrage der Technischen Beschwerdekammer 3.2.01, die klären wollte, nach welchen Grundsätzen Patentansprüche bei der Prüfung von Neuheit und erfinderischer Tätigkeit auszulegen sind [→ Auslegung der Patentansprüche]. In der Spruchpraxis der Beschwerdekammern hatte sich eine Divergenz herausgebildet: Ein Teil der Entscheidungen zog Beschreibung und Zeichnungen nur heran, wenn der Anspruchswortlaut unklar erschien, ein anderer Teil bezog sie stets in die Auslegung ein. Die Kammer erklärte das Vorlageersuchen insoweit für zulässig und wies lediglich eine dritte, weitergehende Frage als nicht entscheidungserheblich zurück.

Die Große Beschwerdekammer entschied, dass für die Interpretation von Ansprüchen bei der Patentierbarkeitsprüfung keine einzelne Vorschrift des EPÜ als alleinige Rechtsgrundlage taugt. Weder Artikel 69 EPÜ [→ Bestimmung des Schutzbereichs] in Verbindung mit dem Protokoll noch Artikel 84 EPÜ seien für sich genommen vollständig. Die Auslegung müsse sich deshalb auf Systematik, Telos und gefestigtes Richterrecht stützen. Gleichwohl seien die Wertungen von Artikel 69 EPÜ analog heranzuziehen, um eine einheitliche Praxis zwischen EPA und späteren Verletzungsgerichten – insbesondere dem Einheitspatentgericht – zu gewährleisten.

Kern der Entscheidung ist die Feststellung, dass Beschreibung und Zeichnungen immer heranzuziehen sind, wenn ein Fachmann den Inhalt eines Anspruchs im Rahmen von Artikel 52 bis 57 EPÜ verstehen muss; eine Beschränkung auf Fälle eindeutiger Unklarheit wird ausdrücklich verworfen. Zugleich betont die Kammer das Vorrangig-sein von Klarheitskorrekturen: Unklarheiten sind primär durch Anspruchsänderungen nach Artikel 84 EPÜ zu beseitigen, nicht durch eine bloße „korrigierende“ Auslegung.

Amtlicher Leitsatz:

Die Patentansprüche sind der Ausgangspunkt und die Grundlage für die Beurteilung der Patentierbarkeit einer Erfindung nach den Artikeln 52 bis 57 EPÜ. Die Beschreibung und die Zeichnungen sind bei der Beurteilung der Patentierbarkeit einer Erfindung nach den Artikeln 52 bis 57 EPÜ stets zur Auslegung der Ansprüche [→ Bestimmung des Schutzbereichs] heranzuziehen – und zwar nicht nur dann, wenn der Fachmann einen Anspruch für sich genommen als unklar oder mehrdeutig empfindet.

Aus der Entscheidungsbegründung:

In ihrer Begründung unterstreicht die Kammer, dass eine voneinander abweichende Praxis zwischen EPA, EPG und nationalen Gerichten „höchst unattraktiv“ wäre. Zudem stellt sie klar, dass schon die Feststellung angeblicher Eindeutigkeit einen Interpretationsakt darstellt. Schließlich hebt sie hervor, dass Definitionen in der Beschreibung regelmäßig verbindlich sind und nur in qualifizierten Ausnahmefällen ignoriert werden dürfen.

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