EPG, UPC_CFI_230/2024: mehrere „realistische Ausgangspunkte“ für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit
EPG, Zentralkammer Paris, Beschl. v. 21. Mai 2025 – UPC_CFI_230/2024

In der Entscheidung der Zentralkammer Paris geht es um ein Patent für ein Verfahren und ein System zur Erkennung von Ballkontakten im Sport, insbesondere zur Unterstützung von Schiedsrichtern bei der Abseitsentscheidung im Fußball. Die Zentralkammer erklärte das Patent für nichtig, weil es gegenüber dem Stand der Technik nicht neu und nicht erfinderisch sei.
Gerichtliche Leitsätze:
Ein weit gefasster, allgemeiner Begriff, der in einem Hauptanspruch verwendet wird, ist nicht auf ein Verständnis zu beschränken, das sich aus den spezifischeren oder engeren Merkmalen ergibt, die in einem abhängigen Anspruch oder in der Beschreibung offenbart werden. Stattdessen zeigen der abhängige Anspruch und/oder die Beschreibung lediglich mögliche Ausführungsformen der patentierten Erfindung, die zusätzliche Vorteile bieten können.
Ausführungsformen dienen im Allgemeinen dazu, Optionen für die Verwirklichung der Erfindung zu beschreiben, und erlauben daher keine einschränkende Auslegung eines allgemeineren Patentanspruchs. In der Patentbeschreibung erwähnte Ausführungsformen erlauben nur den Schluss, dass sie unter den Anspruch fallen; sie schränken den Schutzbereich des Patentanspruchs jedoch nicht ein.
Aus der Entscheidungsbegründung:
Diese Entscheidung UPC_CFI_230/2024 baut in Punkt 8.5 auf der in der früheren Entscheidung UPC_CFI_311/2023 etablierten Möglichkeit, mehrere realistische Ausgangspunkte bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit zu berücksichtigen, auf, indem sie explizit feststellt, dass es nicht notwendig ist, den „vielversprechendsten“ Ausgangspunkt zu identifizieren:
„Um zu beurteilen, ob eine beanspruchte Erfindung für einen Fachmann naheliegend war oder nicht, ist es zunächst notwendig, einen Ausgangspunkt im Stand der Technik zu bestimmen.“
„Es muss eine Begründung dafür geben, warum der Fachmann einen bestimmten Teil des Standes der Technik als realistischen Ausgangspunkt betrachten würde.“
„Ein Ausgangspunkt ist realistisch, wenn seine Lehre für einen Fachmann von Interesse gewesen wäre, der zum Prioritätszeitpunkt des Streitpatents ein ähnliches Produkt oder Verfahren wie das im Stand der Technik offenbarte entwickeln wollte, das somit ein ähnliches zugrunde liegendes Problem wie die beanspruchte Erfindung aufweist (vgl. Beschluss vom 26. Februar 2024 in UPC_CoA_335/2023, NanoString/10x Genomics, S. 34)“
„Es kann mehrere realistische Ausgangspunkte geben.“
„Es ist nicht notwendig, einen „vielversprechendsten“ Ausgangspunkt [-> „nächstliegender Stand der Technik“] zu identifizieren.“
Anmerkung:
Die Zentralkammer Paris des Einheitlichen Patentgerichts nimmt mit Punkt 8.5 der Entscheidung UPC_CFI_230/2024 eine vom EPA abweichende Haltung zur Bestimmung des Ausgangspunkts für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit ein. Während das Europäische Patentamt (EPA) in seinen Richtlinien für die Prüfung (Abschnitt G-VII, 5.1) im Rahmen des „Aufgabe-Lösungs-Ansatzes“ fordert, den „erfolgversprechendsten“ Ausgangspunkt („nächstliegender Stand der Technik“) zu identifizieren, stellt die Zentralkammer Paris klar, dass es mehrere realistische Ausgangspunkte geben kann – und dass es nicht erforderlich ist, den „vielversprechendsten“ auszuwählen.
Diese Abweichung verweist auf einen weniger schematischen Zugang zur Prüfung der Erfindungshöhe. Dabei steht nicht die Suche nach einem einzigen idealen Ausgangspunkt im Vordergrund, sondern die Nachvollziehbarkeit, warum ein Fachmann überhaupt einen bestimmten Stand der Technik zur Lösung des technischen Problems herangezogen hätte.
Diese Herangehensweise der Zentralkammer Paris steht im Einklang mit der ständigen deutschen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Auswahl eines geeigneten Ausgangspunkts für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit.
Der BGH betont wiederholt, dass es nicht auf den „nächstkommenden“ oder „nächstliegenden“ Stand der Technik ankommt. Vielmehr ist entscheidend, ob sich dem Fachmann ein bestimmter Stand der Technik aus seiner Sicht als sinnvoller Ausgangspunkt anbot, um eine bessere oder alternative Lösung für ein technisches Problem zu finden.
So heißt es u. a. in BGH, GRUR 2009, 382 – Olanzapin:
„Die Einordnung eines bestimmten Ausgangspunkts als – aus Ex-post-Sicht – nächstkommender Stand der Technik ist weder ausreichend noch erforderlich.“
Und weiter in BGH, GRUR 2017, 498 – Gestricktes Schuhoberteil:
„Die Wahl des Ausgangspunkts bedarf einer besonderen Rechtfertigung, die in der Regel in dem Bemühen des Fachmanns liegt, für einen bestimmten Zweck eine bessere oder andere Lösung zu finden, als sie der Stand der Technik zur Verfügung stellt.“
Auch das Urteil BGH, GRUR 2009, 1039 – Fischbissanzeiger stellt klar:
„Bei der Beurteilung des Naheliegens […] kann nicht stets der ‚nächstkommende‘ Stand der Technik als alleiniger Ausgangspunkt zugrunde gelegt werden. Die Wahl eines Ausgangspunkts (oder auch mehrerer Ausgangspunkte) bedarf vielmehr einer besonderen Rechtfertigung, die in der Regel aus dem Bemühen des Fachmanns abzuleiten ist, für einen bestimmten Zweck eine bessere – oder auch nur eine andere – Lösung zu finden, als sie der Stand der Technik zur Verfügung stellt (vgl. BGHZ 179, 168 Tz. 51 – Olanzapin). Für ein ausschließliches Abstellen auf einen „nächstkommenden“ Stand der Technik bietet auch das Übereinkommen über die Erteilung europäischer Patente (Europäisches Patentübereinkommen) vom 5. Oktober 1973 (BGBl. 1976 II 649) keine Grundlage.“
Innerhalb des EPA existieren unterschiedliche Sichtweisen bezüglich der Herangehensweise bei der Bestimmung des Ausgangspunktes für die Bewertung der erfinderischen Tätigkeit. So gibt es bei den Beschwerdekammern Rechtsprechung, die sowohl den Ansatz der Prüfungsrichtlinien bestätigt als auch solche, die eher in Richtung der Herangehensweise des EPG bzw. des BGH geht.
Viele ältere Entscheidungen der Beschwerdekammern folgen dem etablierten Aufgabe-Lösungs-Ansatz strikt und betonen die objektive Ermittlung des „nächstliegenden Stands der Technik“ anhand fester Kriterien (ähnlicher Zweck, ähnliche Wirkung, geringste strukturelle Änderungen). Beispielsweise legt die Entscheidung T 24/81 (ABl. 1983, 133) den Grundstein für diesen Ansatz, indem sie die Bedeutung des „gleichen Zwecks“ oder „gleichen Problems“ und des „ähnlichen Gebiets der Technik“ hervorhebt. In der Rechtsprechung wurde der „nächstliegende Stand der Technik“ oft als das „erfolgversprechendste Sprungbrett“ zur Erfindung bezeichnet (siehe z.B. T 254/86). Diese Sichtweise impliziert, dass es den einen besten Ausgangspunkt gibt, von dem aus der Fachmann die Erfindung am ehesten hätte entwickeln können. In der Entscheidung T 1742/12 wurde diese Sichtweise noch verstärkt, indem festgestellt wurde, dass, wenn ein Stand der Technik als „nächstliegender“ oder „erfolgversprechendstes Sprungbrett“ identifiziert werden kann und gezeigt wird, dass die Erfindung ausgehend von diesem Stand der Technik nicht naheliegend ist, auf eine Beurteilung ausgehend von anderem Stand der Technik verzichtet werden kann.
Allerdings gibt es auch Entscheidungen der Beschwerdekammern, die diese Sichtweise relativieren. So argumentierte eine Kammer in T 64/16, dass es zwar sinnvoll sei, die Untersuchung auf „erfolgversprechende“ Dokumente zu beschränken, es aber nicht erforderlich sei, das „erfolgversprechendste“ Sprungbrett auszuwählen und andere Dokumente auszuschließen. Diese Spannung in der Rechtsprechung zeigt, dass es unterschiedliche Auffassungen darüber gibt, wie strikt der Aufgabe-Lösungs-Ansatz anzuwenden ist und inwieweit andere Dokumente berücksichtigt werden können, selbst wenn sie nicht als der „nächstliegende Stand der Technik“ gelten. Diese Tendenz zu einer flexibleren und realitätsbezogeneren Herangehensweise zeigt sich auch in Entscheidungen, die eine Abkehr vom „Dogma des nächstliegenden Stands der Technik“ erkennen lassen (siehe z.B. T 1148/15, die feststellt, dass sich die Annahme, wonach der übrige Stand der Technik weniger relevant sei, als falsch erweisen kann, und T 405/14, die anerkennt, dass der Begriff „nächstliegender Stand der Technik“ unterschiedliche Bedeutungen haben kann und es nicht unbedingt den einen nächstliegenden Stand der Technik geben muss). In einigen Entscheidungen, wie beispielsweise in T 870/96, wird den „gegebenen Umständen“ der Erfindung, wie der Bezeichnung des Gegenstands, der Formulierung der ursprünglichen Aufgabe, der beabsichtigten Verwendung und der zu erzielenden Wirkungen, generell mehr Gewicht beigemessen als einer Höchstzahl identischer technischer Merkmale, was auf eine stärkere Berücksichtigung des Gesamtzusammenhangs hindeutet.
Die aktuelle Fassung der EPA-Prüfungsrichtlinien (Abschnitt G-VII, 5.1) ist demgemäß weniger dogmatisch als frühere Versionen. Sie spiegelt aber erkenntlich ein Spannungsfeld wider, indem sie zwar an der Definition des „nächstliegenden Stands der Technik“ als „erfolgversprechendsten Ausgangspunkt“ festhält, aber gleichzeitig einräumt, dass mehrere gleichwertige Ausgangspunkte existieren können; sie versucht jedoch, diese Flexibilität zu begrenzen, indem sie fordert, dass die Gleichwertigkeit „überzeugend gezeigt“ wird und die mangelnde erfinderische Tätigkeit ausgehend von nur einem relevanten Stand der Technik nachgewiesen werden kann.
Fazit: Die Position der Zentralkammer Paris – dass mehrere realistische Ausgangspunkte bestehen können und ein „vielversprechendster“ Ausgangspunkt nicht zwingend zu ermitteln ist – reflektiert eine differenzierte, flexible Sichtweise, wie sie auch der BGH seit langer Zeit vertritt. Sie steht im Gegensatz zur stärker schematisierten EPA-Praxis, die regelmäßig nach dem „nächstliegenden Stand der Technik“ verlangt – wenn auch am EPA eine sehr deutliche Tendenz zu erkennen ist, von der schematischen Suche nach dem „nächstliegenden Stand der Technik“ abzurücken.