EPG, Berufungskammer – UPC_CoA_327/2025: Maßstäbe für Beweissicherungsmaßnahmen im Ex-parte-Verfahren

EPG, Berufungskammer, Beschl. v. 15. Juli 2025 – UPC_CoA_327/2025

In der vorliegenden Entscheidung bestätigte die Berufungskammer des Einheitspatentgerichts (EPG) eine frühere Entscheidung der Lokalkammer Paris, mit welcher in einem ex parte-Verfahren die Anordnung von Beweis- und Besichtigungsmaßnahmen gegen zwei Antragsgegner in Bezug auf eine angebliche Patentverletzung betreffend ein europäisches Patent gewährt wurden.

Die Berufung eines der Antragsgegner, mit der insbesondere das Fehlen von Dringlichkeit, das Fehlen eines Risikos der Beweisvernichtung sowie ein angeblicher Verstoß gegen den Grundsatz der Loyalität gerügt wurden, wurde als unbegründet zurückgewiesen.

Die Berufungskammer stellte klar, dass das Gericht im Rahmen seines Ermessens nach Art. 60 EPGÜ und den einschlägigen Regelungen der EPGVO (insb. R. 192 ff., 194, 197) bei der Anordnung von Beweissicherungs- und Besichtigungsmaßnahmen insbesondere die Dringlichkeit, das Vorliegen eines Risikos der Beweisvernichtung sowie die Gründe für ein ex parte-Vorgehen prüfen muss. Der Begriff der Dringlichkeit ist dabei eigenständig und von der Dringlichkeit im einstweiligen Rechtsschutz zu unterscheiden. Die Wahrscheinlichkeit – nicht Gewissheit – eines Beweisverlustes genügt; eine ausführliche Prüfung der Schutzrechtsgültigkeit ist im Rahmen von Beweissicherungsmaßnahmen grundsätzlich nicht erforderlich. Der Antragsteller muss dem Gericht nur dann (potenziell) relevante Vorbelastungen mitteilen, wenn deren Offenlegung zum Zeitpunkt des Antrags ausnahmsweise geboten ist.

Im Ergebnis bestätigte das EPG das Vorgehen der ersten Instanz, insbesondere die Entscheidung, die Maßnahmen ohne vorherige Anhörung der Antragsgegner anzuordnen, da Dringlichkeit und ein Risiko der Beweisvernichtung ausreichend dargelegt waren. Die Berufung wurde abgewiesen.

Leitsätze

  1. Bei der Prüfung des Antrags auf Beweissicherung übt das Gericht sein Ermessen unter Berücksichtigung der Dringlichkeit der Angelegenheit (R. 194.2(a) EPGVO → Ermessensausübung des Gerichts) aus, um zu bestimmen, ob und in welchem Umfang es den Antragsgegner anhören möchte (R. 194.1(a) EPGVO), die Parteien zu einer Anhörung laden möchte (R. 194.1(b) EPGVO), den Antragsteller zu einer Anhörung ohne Anwesenheit des Antragsgegners laden möchte (R. 194.1(c) EPGVO) oder über den Antrag entscheiden möchte, ohne den Antragsgegner gehört zu haben (R. 194.1(d) EPGVO).
  2. Die Frist, innerhalb derer der Antragsteller seinen Antrag auf Beweissicherung gestellt hat, ist im vorliegenden Fall nicht geeignet, die Dringlichkeit der Angelegenheit (R. 194.2(a) EPGVO) in Frage zu stellen.
  3. Es ist zwischen der Bewertung der Dringlichkeit im Rahmen eines Antrags auf Beweissicherung (R. 194.2(a) EPGVO → Ermessensausübung des Gerichts) und derjenigen zu unterscheiden, die im Rahmen eines Antrags auf einstweilige Maßnahmen (R. 209.2(b) EPGVO → Berücksichtigung von Faktoren durch das Gericht) zu bewerten ist. Im Rahmen seiner Ermessensausübung, mit der das Gericht bestimmt, ob einstweilige Maßnahmen angeordnet werden, muss dieses jeglichen übermäßigen Verzögerungen bei der Beantragung einstweiliger Maßnahmen Rechnung tragen (R. 211.4 EPGVO). Eine solche Anforderung ist weder im EPGÜ noch in der Verfahrensordnung für die Beurteilung eines Antrags auf Beweissicherung erforderlich.
  4. Das Risiko des Verschwindens oder der Unverfügbarkeit von Beweismitteln ist anhand der Wahrscheinlichkeit (R. 194.2(c) EPGVO) oder des nachweisbaren Risikos (R. 197.1 EPGVO) zu beurteilen, dass die Beweismittel zerstört werden könnten oder nicht mehr verfügbar sind, und nicht anhand der Gewissheit des Verschwindens oder der Unverfügbarkeit der Beweismittel.
  5. Anders als bei den einstweiligen Maßnahmen (Teil 3 der Verfahrensordnung), für deren Anordnung das Gericht von der hinreichenden Gültigkeit des Patents überzeugt sein muss (R. 211.2 EPGVO), ist ein solches Kriterium im Rahmen der Ermessensausübung bezüglich Maßnahmen zur Beweissicherung durch das Gericht nicht erforderlich. Bei der Prüfung eines Antrags auf Beweissicherung und Ortsbesichtigung hat das Gericht die Gültigkeit des streitigen Patents nicht zu prüfen; diese Frage bleibt der Entscheidung des Sachrichters oder bei einstweiligen Maßnahmen vorbehalten, außer wenn die Vermutung der Gültigkeit offensichtlich in Frage gestellt werden kann, beispielsweise aufgrund einer Entscheidung einer Einspruchsabteilung oder einer Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts in einem parallelen Einspruchsverfahren oder eines Nichtigkeitsverfahrens vor einem anderen Gericht bezüglich desselben Patents.
  6. Die Beurteilung der Relevanz eines Standes der Technik obliegt dem Sachrichter oder — in anderem Umfang — dem Richter, der über Anträge auf einstweilige Maßnahmen entscheidet. Deshalb ist es dem Antragsteller auf Maßnahmen zur Beweissicherung im Stadium des Antrags nicht auferlegt, ihm bekannte, ältere Dokumente zu identifizieren und mitzuteilen, es sei denn, dass diese aus besonderen Gründen geeignet sind, die zu erlassende Ex-parte-Entscheidung zu beeinflussen. Ebenso obliegt es dem Richter, der die Maßnahmen zur Beweissicherung und Ortsbesichtigung anordnet, nicht, solche mitgeteilten älteren Dokumente zu überprüfen, es sei denn, diese sind aus offensichtlichen Gründen geeignet, seine Entscheidung zu beeinflussen.

EPG

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