BGH, I ZB 71/12 – Aus Akten werden Fakten: Verkehrsverständnis im Zeitpunkt der Anmeldung des Zeichens
BGH, Beschluss vom 18. April 2013 – I ZB 71/12 – Aus Akten werden Fakten
Amtlicher Leitsatz:
Für die im Eintragungsverfahren (§ 37 Abs. 1, § 41 Satz 1 MarkenG) und im Nichtigkeitsverfahren (§ 50 Abs. 1 MarkenG) vorzunehmende Prüfung, ob einem Zeichen für die angemeldeten Waren oder Dienstleistungen jegliche Unterscheidungskraft fehlt oder gefehlt hat und es daher von der Eintragung nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 MarkenG ausgeschlossen oder entgegen § 8 Abs. 2 Nr. 1 MarkenG eingetragen worden ist, ist auf das Verkehrsverständnis im Zeitpunkt der Anmeldung des Zeichens abzustellen (Aufgabe von BGH, Beschluss vom 15. Januar 2009 – I ZB 30/06, GRUR 2009, 411 = WRP 2009, 439 – STREETBALL; Beschluss vom 9. Juli 2009 – I ZB 88/07, GRUR 2010, 138 = WRP 2010, 260 Rocher- Kugel; Anschluss an EuGH, Beschluss vom 23. April 2010 C332/09, MarkenR 2010, 439 HABM/ Frosch Touristik [FLUGBÖRSE]).
Aus der Beschlussbegründung:
Gemäß § 8 Abs. 2 Nr. 1 MarkenG sind Marken, denen für die Waren oder Dienstleistungen jegliche Unterscheidungskraft fehlt, von der Eintragung ausgeschlossen. Ist die Marke nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 MarkenG von der Eintra-gung ausgeschlossen, wird die Anmeldung gemäß § 37 Abs. 1 MarkenG zurückgewiesen und die Marke nach § 41 Satz 1 MarkenG nicht in das Register eingetragen. Ist die Marke entgegen § 8 Abs. 2 Nr. 1 MarkenG eingetragen worden, wird die Eintragung gemäß § 50 Abs. 1 MarkenG auf Antrag wegen Nichtigkeit gelöscht.
Nach der bisherigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist allerdings sowohl im Eintragungsverfahren (§ 37 Abs. 1, § 41 Satz 1 MarkenG) als auch im Nichtigkeitsverfahren (§ 50 Abs. 1 MarkenG) bei der Prüfung, ob einem Zeichen für die angemeldeten Waren oder Dienstleistungen jegliche Unterscheidungskraft fehlt oder gefehlt hat und es daher von der Eintragung nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 MarkenG ausgeschlossen ist oder entgegen § 8 Abs. 2 Nr. 1 MarkenG eingetragen worden ist, auf das Verkehrsverständnis im Zeitpunkt der Entscheidung über die Eintragung des Zeichens als Marke abzustellen (zum Eintragungsverfahren BGH, Beschluss vom 15. Januar 2009 I ZB 30/06, GRUR 2009, 411 Rn. 14 = WRP 2009, 439 – STREETBALL; zum Nichtigkeitsverfahren BGH, Beschluss vom 9. Juli 2009 – I ZB 88/07, GRUR 2010, 138 Rn. 48 = WRP 2010, 260 – Rocher-Kugel, mwN; vgl. zum Warenzeichengesetz BGH, Beschluss vom 13. Mai 1993 I ZB 8/91, GRUR 1993, 744, 745 MICRO CHANNEL, mwN; vgl. weiter zum absoluten Schutzhindernis der bösgläubigen Markenanmeldung BGH, Beschluss vom 27. April 2006 – I ZB 96/05, BGHZ 167, 278 Rn. 42 – FUSSBALL WM 2006; Beschluss vom 2. April 2009 I ZB 8/06, GRUR 2009, 780 Rn. 11 = WRP 2009, 820 – Ivadal; vgl. ferner Ströbele in Ströbele/Hacker, MarkenG, 10. Aufl., § 8 Rn. 15 und 18; Kirschneck in Ströbele/Hacker aaO § 37 Rn. 3, § 50 Rn. 5; Ingerl/Rohnke, MarkenG, 3. Aufl., § 8 Rn. 32; Fezer, Markenrecht, 4. Aufl., § 37 MarkenG Rn. 18; Kramer in Ekey/Klippel/Bender, Markenrecht, Bd. 1, 2. Aufl., § 37 MarkenG Rn. 4; Lange, Marken- und Kennzeichenrecht, 2. Aufl., Rn. 574; Bingener in Fezer, Handbuch der Markenpraxis, 2. Aufl., Markenverfahren DPMA Rn. 282).
Das Abstellen auf den Zeitpunkt der Entscheidung über die Eintragung des Zeichens statt auf den Zeitpunkt der Anmeldung des Zeichens wird vor allem damit begründet, dass es sich bei dem Eintragungsverfahren um ein auf schnelle Erledigung einer Vielzahl von Anmeldungen gerichtetes Registrierungsverfahren handelt, in dessen Rahmen für eingehende, langwierige Ermittlungen kein Raum ist (BGH, GRUR 1993, 744, 745 – MICRO CHANNEL; vgl. auch BGH, Beschluss vom 23. Mai 1984 – I ZB 6/83, BGHZ 91, 262, 270 – Indorektal). Zwischen der Anmeldung des Zeichens und der Entscheidung über die Eintragung des Zeichens könnten – insbesondere wenn gegen die Eintragungsentscheidung Rechtsbehelfe eingelegt würden – mehrere Jahre liegen. Wäre der Zeitpunkt der Anmeldung des Zeichens maßgeblich, müssten bei der Entscheidung über die Eintragung des Zeichens oft schwierige Ermittlungen zum Vorliegen von Schutzhindernissen am Anmeldetag angestellt werden. Komme es dagegen auf den Zeitpunkt der Entscheidung über die Eintragung des Zeichens an, könne das Vorliegen von Schutzhindernissen schneller und zuverlässiger festgestellt werden (vgl. Ströbele in Ströbele/Hacker aaO § 8 Rn. 15).
Der Anmelder muss nach dieser Ansicht sowohl im Eintragungsverfahren als auch im Nichtigkeitsverfahren nach der Anmeldung des Zeichens und vor der Entscheidung über die Eintragung des Zeichens entstandene Eintragungshindernisse – wie hier den Verlust der Unterscheidungskraft des Zeichens – gegen sich gelten lassen.
Nach der neueren Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zur Gemeinschaftsmarkenverordnung ist dagegen für die Prüfung eines auf Art. 51 Abs. 1 Buchst. a GMV aF (Art. 52 Abs. 1 Buchst. a GMV nF) gestützten Antrags auf Nichtigerklärung allein der Zeitpunkt der Anmeldung maßgeblich (EuGH, Beschluss vom 5. Oktober 2004 C-192/03, Slg. 2004 I8993 Rn. 37 bis 41 – Alcon/HABM [BSS]; Beschluss vom 23. April 2010 C332/09, MarkenR 2010, 439 Rn. 41 bis 46 – HABM/Frosch Touristik [FLUGBÖRSE]). Nach Art. 51 Abs. 1 Buchst. a GMV aF (Art. 52 Abs. 1 Buchst. a GMV nF) wird die Gemeinschaftsmarke auf Antrag beim Amt für nichtig erklärt, wenn sie entgegen den Vorschriften des Art. 7 GMV eingetragen worden ist. Gemäß Art. 7 Buchst. b GMV sind Marken, die keine Unterscheidungskraft haben, von der Eintragung ausgeschlossen.
Nach Ansicht des Gerichtshofs lässt sich nur mit dieser Auslegung von Art. 51 Abs. 1 Buchst. a GMV aF (Art. 52 Abs. 1 Buchst. a GMV nF) vermeiden, dass ein Verlust der Eintragungsfähigkeit einer Marke umso wahrscheinlicher wird, je länger das Eintragungsverfahren dauert (EuGH, MarkenR 2010, 439 Rn. 47 bis 54 – HABM/Frosch Touristik [FLUGBÖRSE]). Daraus folgt, dass auch für die Prüfung, ob die Anmeldung einer Marke gemäß Art. 38 Abs. 1 GMV aF (Art. 37 Abs. 1 GMV nF) zurückzuweisen ist, weil sie nach Art. 7 GMV und insbesondere wegen Fehlens der Unterscheidungskraft nach Art. 7 Buchst. b GMV von der Eintragung ausgeschlossen ist, allein der Zeitpunkt der Anmeldung maßgeblich ist. Denn nur mit dieser Auslegung von Art. 38 Abs. 1 GMV aF (Art. 37 Abs. 1 GMV nF) lässt sich vermeiden, dass ein Verlust der Eintragungsfähigkeit einer Marke umso wahrscheinlicher wird, je länger das Eintragungsverfahren dauert.
Der Anmelder muss danach weder im Eintragungsverfahren noch im Nichtigkeitsverfahren eine nach dem Zeitpunkt der Anmeldung eingetretene nachteilige Veränderung der Marke, wie den Verlust ihrer Unterscheidungskraft oder ihre Umwandlung in eine gebräuchliche Bezeichnung, gegen sich gelten lassen (vgl. EuGH, MarkenR 2010, 439 Rn. 53 – HABM/Frosch Touristik [FLUGBÖRSE]).
Der Senat hält im Blick auf diese Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht an seiner bisherigen Rechtsprechung fest. Für die im Eintragungsverfahren (§ 37 Abs. 1, § 41 Satz 1 MarkenG) und im Nichtigkeitsverfahren (§ 50 Abs. 1 MarkenG) vorzunehmende Prüfung, ob einem Zeichen für die angemeldeten Waren oder Dienstleistungen jegliche Unterscheidungskraft fehlt oder gefehlt hat und es daher von der Eintragung nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 MarkenG ausgeschlossen oder entgegen § 8 Abs. 2 Nr. 1 MarkenG eingetragen worden ist, ist auf das Verkehrsverständnis im Zeitpunkt der Anmeldung des Zeichens abzustellen. Dafür spricht nicht nur das Interesse des Anmelders, durch die Dauer des Eintragungsverfahrens keine Nachteile zu erleiden. Hinzu kommt das Interesse der Allgemeinheit an einer grundsätzlich einheitlichen Auslegung dieser miteinander übereinstimmenden Regelungen der Gemeinschaftsmarkenverordnung einerseits und des Markengesetzes andererseits (vgl. Bölling, GRUR 2011, 472, 477). Diese Interessen des Anmelders und der Allgemeinheit sind jedenfalls in ihrer Gesamtheit – höher zu bewerten als das Interesse an einer schnellen Erledigung einer Vielzahl von Anmeldungen.