EU-Patent und nachveröffentlichter Stand der Technik
Es ist derzeit nicht ganz einfach, den Überblick über die aktuellen Entwicklungen beim EP-Patent mit einheitlicher Wirkung und dem geplanten Übereinkommen über die Schaffung eines Europäischen Patentgerichtssystems (im Folgenden: UPC-Übereinkommen) zu behalten. Bei einer Durchsicht der nun erlassenen Verordnung zur Schaffung eines einheitlichen Patentschutzes (genauer: der Verordnung über die Umsetzung der verstärkten Zusammenarbeit im Bereich der Schaffung eines einheitlichen Patentschutze – aus ersichtlichen Gründen wird diese im Folgenden nur noch als Patent-VO bezeichnet) ist mir folgender Punkt aufgefallen, den ich für sehr wichtig halte.
Die früheren Entwürfe für die Patent-VO sahen noch vor, dass der Grundsatz der Einheitlichkeit eine Durchbrechung erfährt, wenn neuheitsschädlicher nachveröffentlichten Stand der Technik existiert. So hieß es in Artikel 5 des Entwurfs für die Patent-VO (Kommissionsdokument COM(2011) 215/3) noch:
„In the event of a limitation or a revocation on the ground of lack of novelty pursuant to Article 54(3) of the EPC [eigentlich gemeint gewesen sein dürften nationale nachveröffentlichte Dokumente nach Artikel 139(2) EPÜ oder Stand der Technik nach Artikel 54(3) EPÜ, Anm.], the limitation or revocation of a European patent with unitary effect shall take effect only in respect of the participating Member State(s) designated in the earlier European patent application as published.”
Diese Regelung ist im Rechtssetzungsverfahren (aufgrund von Änderungsvorschlägen im Rechtsausschuss des Parlaments) entfallen. Die erlassene Patent-VO betont vielmehr immer wieder den Grundsatz der Einheitlichkeit, ohne eine Spezialregelung für den Fall vorzusehen, dass nachveröffentlichter nationaler Stand der Technik einem Anspruch des EP-Patents mit einheitlicher Wirkung neuheitsschädlich entgegensteht.
So heißt es beispielsweise in der Patent-VO
– in ErwG (7): „Folglich sollte ein Europäisches Patent mit einheitlicher Wirkung nur im Hinblick auf alle teilnehmenden Mitgliedstaaten beschränkt, übertragen, für nichtig erklärt oder erlöschen.“
– in Artikel 3(2): „Ein Europäisches Patent mit einheitlicher Wirkung hat einen einheitlichen Charakter. Es bietet einheitlichen Schutz und hat gleiche Wirkung in allen teilnehmenden Mitgliedstaaten. Es kann nur im Hinblick auf alle teilnehmenden Mitgliedstaaten beschränkt, übertragen oder für nichtig erklärt werden oder erlöschen.“
Auch die aktuellste der derzeit im Internet gut auffindbaren Fassungen des Entwurfs für das UPC-Übereinkommen enthält keine ausdrückliche Regelung für den Fall, dass nachveröffentlichter (nationaler) Stand der Technik einem Anspruch des EP-Patents mit einheitlicher Wirkung neuheitsschädlich entgegensteht. So verweist Artikel 38a(2) des Entwurfs für das UPC-Übereinkommen auf Artikel 139(2) EPÜ: „The Court may revoke a patent, either entirely or partly, only on the grounds referred to in Articles 138(1) and 139(2) of the EPC.“ Artikel 139(2) EPÜ betrifft die neuheitsschädliche Wirkung des nachveröffentlichen (nationalen) Stands der Technik gegenüber dem entsprechenden nationalen Teil eines Europäischen Patents. Jedoch scheint auch diese Regelung im Entwurf für das UPC-Übereinkommen nicht mit der notwendigen Klarheit zu regeln, welche Wirkung eine neuheitsschädliche nachveröffentlichte nationale Patentanmeldung für das Patent mit einheitlicher Wirkung hat. Das „partly“ in Artikel 38a(2) des Entwurfs für das UPC-Übereinkommen scheint sich nur auf die Einschränkung des Anspruchs (d.h. des Schutzgegenstands) im Rechtsbestandsverfahren, nicht auf eine territoriale Beschränkung auf diejenigen Staaten zu beziehen, in denen es keinen neuheitsschädlichen nachveröffentlichten Stand der Technik gibt.
Nach meiner Auffassung könnten die derzeitigen Regelungen auf zweierlei Weise ausgelegt werden:
a) Eine neuheitsschädliche nachveröffentlichte nationale Patentanmeldung in nur einem der Staaten, die sich an der verstärkten Zusammenarbeit beteiligten, würde dazu führen, dass das EP-Patent mit einheitlicher Wirkung insgesamt (also für alle Staaten) beschränkt oder nichtig erklärt werden muss. Zu diesem Ergebnis könnte man mit der Überlegung gelangen, dass aufgrund der Wirkung der nachveröffentlichten nationalen Anmeldung als Stand der Technik nach Artikel 139(2) EPÜ das EP-Patent mit einheitlicher Wirkung nicht in allen Staaten Bestand haben kann und daher – wegen Art. 3 (2) der Patent-VO – mit Wirkung für alle Staaten beschränkt oder widerrufen werden muss. Für eine solche Interpretation könnten auch die Historie des Rechtssetzungsverfahrens sprechen, in dem eine (ursprünglich vorgesehene) Regelung dahingehend, dass der Grundsatz der Einheitlichkeit bei nachveröffentlichtem Stand der Technik durchbrochen wird, schlussendlich verworfen wurde. Es ist allerdings schwer vorstellbar, dass eine derart drastische Wirkung einer nachveröffentlichten nationalen Patentanmeldung tatsächlich beabsichtigt war, wenn man dem EP-Patent mit einheitlicher Wirkung zum Erfolg verhelfen wollte. Man könnte in diesem Fall einem Anmelder bzw. Patentinhaber wohl nie zur Eintragung der einheitlichen Wirkung raten.
ODER:
b) Eine neuheitsschädliche nachveröffentlichte nationale Patentanmeldung in nur einem der Staaten, die sich an der verstärkten Zusammenarbeit beteiligten, würde zwar dazu führen, dass die einheitliche Wirkung entfällt, nicht aber dazu, dass das EP-Patent auch mit Wirkung für die anderen Staaten beschränkt oder nichtig erklärt werden muss. Zu diesem Ergebnis könnte man mit der Überlegung gelangen, dass die nachveröffentlichte nationale Anmeldung als Stand der Technik nach Artikel 139(2) EPÜ nur das EP-Patent im entsprechenden „Kollisionsstaat“ betrifft und deswegen zu unterschiedlichen Anspruchssätzen in den unterschiedlichen Staaten führen würde. Dies lässt die Voraussetzung für die Eintragung der einheitlichen Wirkung entfallen (Art. 3 (3) der Patent-VO), stellt aber nicht den Rechtsbestand des EP-Patents in den anderen Staaten in Frage. Alternativ könnte der Patentinhaber die Ansprüche für alle Staaten so einschränken, dass sie neu gegenüber jedem nachveröffentlichten nationalen Stand der Technik sind. Dieses Ergebnis ist für den Patentinhaber deutlich weniger schlimm als bei der obigen Interpretation a), würde ihn aber immer noch vor die unangenehme Wahl stellen, entweder die Ansprüche selbst für die Staaten einschränken zu müssen, in denen es keinen nachveröffentlichten nationalen Stand der Technik gibt, oder die einheitliche Wirkung zu verlieren. Rechtliche Regelungen für den Fall, dass die einheitliche Wirkung nachträglich aufgrund unterschiedlicher Anspruchssätze in unterschiedlichen Staaten entfällt, wären in diesem Fall relevant (z.B. im Hinblick auf Jahresgebühren), scheinen aber weder in der Patent-VO noch im Entwurf für das UPC-Übereinkommen enthalten zu sein.
Abschließend sei darauf hingewiesen, dass die oben skizzierte Interpretation a), die so drastische Wirkungen für den Schutzrechtsinhaber hätte, im Bereich der Gemeinschaftsschutzrechte durchaus vorkommt. So sieht beispielsweise Art. 25 Abs. 1 d) (ii) GGsmVO vor, dass ein nachveröffentlichtes nationales Geschmacksmuster eines EU-Mitgliedsstaats zur Nichtigkeit des Gemeinschaftsgeschmacksmusters führt.
Vielleicht bringen die weiteren Arbeiten am UPC-Übereinkommen und/oder an den Verfahrensregeln für das Patentgericht Klärung der skizzierten Fragen. Zu wünschen wäre dies jedenfalls.